Quelle: Mundus Novus, Brief von Amerigo Vespucci über die Neue Welt, 1502
Diesen Brief an Lorenzo di Pier Francesco de’ Medici verfasste Amerigo Vespucci 1502 in Lissabon nach seiner Rückkehr aus der „Neuen Welt“.
„Wir fanden das Land von Menschen bewohnt, die völlig nackt gingen, Männer und Frauen, ohne darüber die geringste Scham zu empfinden. Ihre Körper sind wohlgeformt und die Körperteile stehen im richtigen Verhältnis, die Farbe ist weiß, die Haare sind schwarz, der Bartwuchs dünn oder nicht vorhanden. Ich unternahm einiges, ihr Leben und ihre Bräuche kennenzulernen, weshalb ich 27 Tage unter ihnen aß und schlief, und folgendes erfuhr ich bei ihnen.
Sie haben keine Gesetze und keinen Glauben, sie leben der Natur gemäß. Sie haben keinen Begriff von der Unsterblichkeit der Seele, es gibt unter ihnen kein persönliches Eigentum, weil alles gemeinsam ist; sie kennen keine Bezeichnung für Reich und Provinz; sie haben keinen König; sie gehorchen niemandem, jeder ist sein eigener Herr [...].
Des weiteren sind sie kriegerisch und grausam gegeneinander. Alle ihre Waffen sind [...] Pfeil und Bogen, Wurfspieße und Steine, und sie schützen ihre Körper nicht, weil sie so nackt gehen wie sie geboren wurden, sie verfolgen im Krieg keine Taktik, außer daß sie den Ratschlägen ihrer Ältesten gehorchen, und wenn sie kämpfen, töten sie sehr grausam [...].
Und das für mich Verwunderlichste an ihren Kriegen und ihrer Grausamkeit ist, daß ich von ihnen nicht erfahren konnte, warum sie miteinander Krieg führen, denn sie haben keinen Besitz, weder Imperien noch Königreiche, sie wissen nicht, was Erbschaft ist, das heißt Eigentum, oder Herrschsucht, nach meiner Meinung die einzigen Gründe für Kriege und alle Arten von Unordnung“.
- aus: Bibliotheca Nazionale Centrale di Firenze. Codice Galileiano 292. Cimento Parte III. Carteggio. Vol. 18: Carte 137, 138, 139, zitiert nach: Eberhard Schmitt (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2: Die großen Entdeckungen, hrsg. von Matthias Meyn u.a. München 1984, 177-180.