Quelle: Guillaume Raynal/Denis Diderot, Über die Sklaverei, 1770/80
Die Quelle ist ein Beispiel für die Verzahnung von ökonomischen, naturrechtlichen und moralischen Argumenten gegen den Sklavenhandel.
„Europa erschallt seit einem Jahrhundert von den gesundesten und erhabensten moralischen Grundsätzen. Die brüderliche Liebe gegen alle Menschen ist auf die rührendste Art in unsterblichen Werken vorgetragen. Man ist unwillig über die geistlichen und weltlichen Grausamkeiten unserer wilden Voreltern und wendet seine Blicke von diesen abscheulichen und blutigen Jahrhunderten ab. Diejenigen unserer Nachbarn, welche von den barbarischen Staaten mit Fesseln belegt sind, werden von uns durch Hilfe und Mitleiden unterstützt. Selbst eingebildetes Unglück entreißt uns in der Stille unsers Kabinetts und vorzüglich auf dem Theater Tränen. Nur das unglückliche Schicksal der Neger ist uns gleichgültig. [...]
Der erste Schritt zu einer Verbesserung bestünde darin, daß man den natürlichen und sittlichen Menschen kennenlernte. [...]
Die Seele der Verwalter ist jeder Empfindung von Mitleiden verschlossen, kennt keine anderen Triebfedern als Furcht und Gewalt und braucht sie mit aller Unmenschlichkeit einer erbettelten Herrschaft. Wenn die Eigentümer der Pflanzungen aufhörten, die Sorge für die Sklaven für zu gering zu achten, und sich einem Geschäft unterzögen, das in allem Betracht eine Pflicht für sie ist, so würden sie bald diese grausamen Irrtümer ablegen.
Die Geschichte aller Völker würde ihnen beweisen, daß man die Sklaverei wenigstens gelinde machen muß, wenn sie einträglich sein soll, daß die Gewalt die innere Widerspenstigkeit der Seele nicht hemmet, daß der Vorteil des Herrn es erfordert, daß der Sklave Luft zum Leben habe und daß man nichts mehr von ihm zu erwarten hat, sobald er sich nicht mehr vor dem Tod fürchtet.“
- aus: Guillaume Raynal/Denis Diderot, Die Geschichte beider Indien. Nördlingen 1988, 225-231, zitiert nach: Barbara Stollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2000, 382-383.