1.1. „Ganzes Haus“

1.1.1. Das Konzept des „Ganzen Hauses“ (Otto Brunner)

Anhand der so genannten Hausväterliteratur des 17./18. Jh. hat Otto Brunner die Prinzipien einer alteuropäischen Lehre des häuslichen Lebens und Wirtschaftens rekonstruiert (Modell ist der landadelige bzw. großbäuerliche Hof). Dieses ist auf die Sicherung der häuslichen Nahrung ausgerichtet; die Marktverflechtung ist gering („Subsistenzwirtschaft“). Das Haus ist zugleich Wirtschafts-, Sozial-, Rechts- und Herrschaftsverband. Als wirtschaftliche „Nahrungsstelle“ (Hof, Meisterstelle etc.) und soziale Grundeinheit der vormodernen Gesellschaft ist es gekennzeichnet durch die Einheit von Produktion und Reproduktion. Gruppiert um die Kernfamilie aus Ehepaar („Arbeitspaar“) und unverheirateten Kindern, umfasst es darüber hinaus alle an der Hauswirtschaft Beteiligten (Gesinde, Alte, evtl. unverheiratete Verwandte etc.).

Funktionen des Hauses sind:

  • die primäre und sekundäre wirtschaftliche Produktion;
  • Fortpflanzung und Kinderaufzucht;
  • Konsumtion;
  • Versorgung von Alten und Kranken;
  • Vermittlung kirchlicher und weltlicher Normen.

Der Hausherr übt patriarchale Herrschaft über alle Hausgenossen aus. Nur vermittelt über den Hausherrn (bzw. evtl. seine Witwe) hat der Hausverband an den übergeordneten sozialen Verbänden teil (Dorf, Stadt, Kirchengemeinde etc.).

1.1.2. Funktionsverlust des „Ganzen Hauses“, Entstehung der „bürgerlichen Familie“

Im späten 18./19. Jh. treten Familienhaushalt und Betrieb auseinander. Es erfolgt einerseits eine zunehmende Verlagerung der wirtschaftlichen Produktion und der Dienstleistungen in von der Familie getrennte Betriebe (Manufaktur, Amt, Fabrik etc.) und eine Zunahme von bezahlter Erwerbsarbeit (v.a. des Mannes). Andererseits bildet sich eine von wirtschaftlicher Produktion entlastete familiäre „Privatsphäre“, deren verbliebene Funktionen emotional und moralisch aufgewertet werden. „Rationalität“ der Betriebsführung und „Sentimentalität“ der Familie treten einander gegenüber. Damit einher geht eine „Polarisierung der Geschlechterrollen“ (K. Hausen).

1.1.3. Kritik an diesem Modell (Opitz, Troßbach)

  1. Begrenzte Subsistenzwirtschaft: Die Haushalte von städtischen Handwerkern, Beamten, unterständischen Schichten waren schon in der FNZ nicht mehr autark; das Modell trifft höchstens auf eine Minderheit (Bauern, Adel) zu.
  2. Keine absolute patriarchale Herrschaft: Auch Hausmütter übten Herrschaft aus und handelten in weiten Bereichen des Haushalts autonom, waren eher Partnerinnen als Untergebene des Hausherrn. Ihr Handeln war maßgeblich für die „Hausehre“. Kirchliche und weltliche Obrigkeit konnte in das Haus regulierend eingreifen.
  3. Hauptvorwurf: Das Konzept verkläre die „vormoderne“, „alteuropäische“ Familie zum romantischen Gegenbild der Moderne und transportiere autoritäre, vordemokratische und patriarchalische Ideale.