1.2. Die Ehe als Basis häuslichen Wirtschaftens
1.2.1. Das „europäische Heiratsmuster“
Von Mitte des 16. bis ins frühe 18. Jh. stellten sich in West- und Mitteleuropa zwei demographische Merkmale ein:
- Anstieg des Alters bei der Erstheirat von rund 20 auf 25-27 Jahren bei Frauen, von gut 20 auf ca. 30 Jahren bei den Männern.
- In manchen Teilen Europas blieb ein hoher Teil der Erwachsenen (bis zu 30% der 50jährigen) permanent ledig.
Erklärungen: Die Eheschließung war an ein wirtschaftliches Auskommen geknüpft, damit die Nachkommen versorgt werden konnten. Dabei wurden mit der langfristigen Verarmung landwirtschaftliche Lohnarbeit und gewerbliche Produktion als materielle Basis eines Haushalts zunehmend wichtiger. Heirat war damit zunehmend weniger an ein Unterkommen auf einem Hof (Patrilokalität: Das Paar wohnt bei den Eltern des Mannes) gebunden, sondern vermehrt mit der Gründung einer eigenen Existenz verknüpft (Neolokalität: Das Paar wohnt von den Eltern getrennt); hierzu mussten Mittel angespart bzw. geerbt werden. Die Verschlechterung der Realeinkommen im 16. und frühen 17. Jh. (geringere Sparrate, Wirtschaftliche Wechsellagen) trug zusätzlich zur Verschiebung der Heirat auf ein späteres Alter bei.
1.2.2. Kontrolle der Jugend als Problem
Das "europäische Heiratsmuster" hatte eine lange Phase zwischen Pubertät und Heirat zur Folge. Das Jugendalter wird meist im Gesindestatus verbracht: Die Arbeitsrollen des Gesindes sind mit denen der Kinder austauschbar, das Gesinde ist in die Hauswirtschaft integriert (Tischgemeinschaft). Das Gesinde war eng an das Europäische Heiratsmuster gebunden: ledig und mehrheitlich 15-25 Jahre alt („life-cycle-servanthood“). In Gebieten mit großbäuerlichen Betrieben waren 40-50% der Personen dieser Altersklasse, v.a. solche aus unterbäuerlichen Haushalten, im Gesindedienst (6-10% der Bevölkerung).
Problem der Kontrolle vorehelicher Sexualität: Sexuelle Normen der Bevölkerung und der Obrigkeiten divergierten; völlige voreheliche Enthaltsamkeit war nicht durchsetzbar; aber der Umgang unter Unverheirateten unterlag Regeln und folgte Ritualen („Kiltgang“ oder „Nachtfreien“, Gemeindefeste, Spinnstuben als Orte gemischtgeschlechtlicher Kontakte). Junge Männer waren in dörflichen Burschenschaften bzw. Gesellenverbänden locker organisiert; sie übten mittels kollektiver Rituale Einfluss auf den Heiratsmarkt und die gemeindliche Moral aus (Heiratsbräuche, Charivari/Katzenmusik u.a. symbolische Sanktionen gegen Normverstöße).
1.2.3. Eheschließung - Kirchliche, staatliche und familiäre Kontrolle
Mit dem Rückgang der persönlichen Bindung an den Grundherrn in weiten Teilen Europas in der Agrarkrise des Spätmittelalters ging die Kontrolle über das Heiraten zunächst zurück. Das führte zu erheblichen Ordnungsproblemen (z.B. „Klandestinehen“). Nach Kirchenrecht war eine Ehe gültig geschlossen durch Konsens der Eheleute und „fleischlichen Vollzug“, auch ohne kirchliche Segnung und familiäre Zustimmung. Da aber die Ehe nicht eine Sache nur von zwei Individuen war, sondern von ihr die Aufrechterhaltung von Standesgrenzen, die Weitergabe des Besitzes, die Wahrung der Wirtschaftskraft und die Knüpfung sozialer Netze abhing, war das Interesse nach Kontrolle seitens der weltlichen und geistlichen Obrigkeit und der Familien groß.
Seit dem dritten Drittel des 16. Jh.s entstanden neue Kontrollinstanzen:
- Verkirchlichung der Eheschließung: Kirchenreformen forderten die öffentliche Verkündigung zwecks Klärung von Einsprachen und Ehehindernissen; katechetische Unterweisung als Voraussetzung zur Ehe; v.a. in evangelischen Gebieten Konsens von Eltern bzw. Vormund. Die öffentliche kirchliche Trauung wurde dadurch zunehmend ehestiftend. Durchgesetzt wurden kirchliche Ehevorstellungen u.a. über einen Ausbau der Ehegerichtsbarkeit (bischöfliche bzw. landesherrliche Konsistorien). Kirchliche Ehegerichte erlaubten insbesondere das Einklagen von Eheversprechen und die Sanktionierung außerehelicher Sexualität.
- Quellen zu Ehe und Hochzeit: Von ehe-sachen und hochzeiten (Kursächsische Generalartikel von 1557); Wie breutigam und braut zu trauen und zu segnen, 1580 (Kursächsische Kirchenordnung)
- Staatliche Ehehindernisse: Seit Mitte des 17. Jh.s suchte die staatliche Policeygesetzgebung die Eheschließung bestimmter Gruppen (Beamte, Soldaten, Dienstboten, Arme) zu kontrollieren und an Bedingungen (v.a. „Nahrung“) zu knüpfen. Der Vollzug gestaltete sich aber schwierig; der Höhepunkt staatlicher Eheverhinderung erfolgte erst in der ersten Hälfte des 19. Jh.s.
- Grundherrschaftliches und kommunales Erbrecht: In der FNZ vermehrten sich Bestimmungen, die die ungeteilte Weitergabe von Bauernhöfen anstrebten (Ländliche Gesellschaft, Vererbung), was mindestens in bäuerlichen Schichten das Heiratsverhalten beeinflusste.
- Unterschiede in den Konfessionen: Die Reformation wertet die Ehe erheblich auf, obwohl sie sie nicht mehr als Sakrament versteht. Die Abschaffung des Ordenswesens und des Zwangszölibats macht die Ehe zur normalen, gottgefälligen christlichen Lebensform und Mutterschaft zum weiblichen „Beruf“. Alle weiblichen Lebensformen jenseits der Unterordnung unter die Eheherrschaft werden entwertet. Prostitution wird im Gefolge der Reformation auch in katholischen Ländern kriminalisiert; kommunale Bordelle des Spätmittelalters geschlossen.