Bildquelle: Das Licht- und Spinnstubenwesen, Holzschnitt von B. Beham, 1524

(el) Die bis ins 19. Jh. existierenden Spinnstuben der Frauen und Knabenschaften der Männer waren außerhäusliche Orte der Geselligkeit, in denen sich nach Feierabend hauptsächlich die jugendliche unverheiratete Dorfbevölkerung traf. Ihre Funktion ging weit über die Produktion von Textilien hinaus. Sie stellten eine kollektive moralische und „Sozialisationsinstanz“ (Troßbach, Bauern, 109) dar, in der Sitten und Gebräuche eingeübt und Verstöße gerügt wurden. Die in der Spinnstube gefertigten Brautgaben z.B. gaben Auskunft über das soziale Ansehen einer Braut. Weiter galten sie als „kritisches Forum der dörflichen Öffentlichkeit (Medick, Spinnstuben, 29).

Zentral war die Rolle der Spinnstuben als Ort jugendlicher Sexualkultur. Die Spinnstuben, die im Laufe eines Abends nach festen Regeln von der männlichen Dorfbevölkerung aufgesucht wurden, hatten „soziale[n] Funktionen innerhalb des umfassenderen Brauchs der Eheeinleitung und Partnerwahl“ (Medick, Spinnstuben, 29).

Die weltliche und kirchliche Obrigkeit versuchte, die oftmals als „Lasterhöhlen“ (Dülmen, Haus, 126) angesehenen Spinnstuben unter ihre Kontrolle zu bringen. So wurde versucht, die Spinnstuben auf rein weibliche Arbeit und Geselligkeit zu beschränken, sie unter die Aufsicht einer erwachsenen Person zu stellen oder nur unter Verwandten zuzulassen. Allerdings wird das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Spinnstuben bzw. Knabenschaften unterschiedlich bewertet und variierte regional und zeitlich.

aus: John R. Gillis, Geschichte der Jugend: Tradition und Wandel im Verhältnis der Altersgruppen und Generationen in Europa von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Weinheim 1980, 35.