2.2. Kriterien ständischer Ungleichheit
2.2.1. Subsistenzweise
Die Stände unterscheiden sich nach Art und Weise der Erwirtschaftung des Lebensunterhalts, z.B.:
- Bezug von arbeitslosem Renteneinkommen (Adel)
- Bearbeitung von Grund und Boden (Bauern)
- handwerkliche Produktion (Zunftbürgertum)
- Ämter (Klerus, Beamte)
- akademische Profession (Ärzte, Advokaten etc.) usw.
2.2.2. Herrschaft
Die Vormoderne kennt noch kein Gegenüber von Staat (alleinige Quelle aller Hoheitsrechte) und Gesellschaft (Privatleute mit bürgerlicher Rechtsgleichheit). Herrschaft wird vielmehr auf allen Ebenen der ständischen Gesellschaft ausgeübt: von Ehe, Familie, Gemeinde, Territorium bis zum Reich. Verfügung über autonome bzw. abgeleitete Herrschaft bzw. Unterworfensein unter eine Herrschaft ist daher ein wesentliches Kriterium ständischer Ungleichheit. Der Adel definiert sich z.B. über Herrschaftsrechte gegenüber eigenen Untertanen (Grundherrschaft) sowie über die Teilhabe an der zentralen Herrschaft (Landstandschaft); das Stadtbürgertum definiert sich durch teilautonome Herrschaft innerhalb der Stadt (Ratsherrschaft) sowie ebenfalls über die Teilhabe an der zentralen Herrschaft (Landstandschaft).
2.2.3. Standesgemäße Lebensführung, „ständische Ehre“, Konventionen und Normen
Nach Max Weber unterscheiden sich vormoderne Stände nicht, wie moderne Klassen, primär nach ihrer Beziehung zu Produktion und Erwerb von Gütern, sondern nach den „Prinzipien des Güterkonsums in Gestalt spezifischer Arten von Lebensführung“, nach „sozialer Ehre“, wobei „Ehre“ wahrnehmbare soziale Zugehörigkeit und Wertschätzung meint.
2.2.4. Rechtsstatus
Anders als moderne Schichtzugehörigkeit ist vormoderne Standeszugehörigkeit ein Rechtsstatus; es gibt noch keine staatsbürgerliche Gleichheit. Rechte und Pflichten ergeben sich v.a. aus der Zugehörigkeit zu einer ständischen Korporation (z.B. Stadt- oder Dorfgemeinde, Grafenverein etc.). Ständische Privilegien sind rechtlich festgeschrieben. Hierzu zählt z.B. beim Adel die Freiheit von gewissen Steuern, ein besonderer Gerichtsstand, Monopole auf gewisse Ämter und Pfründen; beim Stadtbürgertum das Recht zur Ausübung eines bestimmten Gewerbes, die Verwaltungsautonomie etc.; bei den bäuerlichen Dorfgenossen die Teilhabe am Gemeindeeigentum, an Ämterwahlen etc. Ebenso sind ständische Distinktionsmerkmale wie Kleidung, Titulatur, Aufwand bei Feiern, Ehrenbezeugung etc. rechtlich festgelegt (z.B. in Kleider- und anderen Luxusordnungen).
2.2.5. Unehrlichkeit
(cs) Das Phänomen der "Unehrlichkeit" war eine Besonderheit der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ständegesellschaft und bezeichnete in erster Linie einen juristisch definierten Status und war keine moralisch-sittliche Kategorie wie im heutigen Verständnis. (Kramer, Art. Ehrliche/unehrliche Gewerbe) Als unehrlich galten eine ganze Reihe von Berufen - unter Beachtung vielfältiger regionaler Unterschiede zählten Abdecker, Bader, Bettelvögte, Gassenkehrer, Gerber, Gerichts- und Polizeidiener, Henker, Hirten, Holz- und Feldhüter, Kastrateure, Kloakenfeger, Leineweber, Müller, Nachtwächter, Prostituierte, Schäfer, Schauspieler, Schornsteinfeger, Spielleute, Töpfer, Totengräber, Türmer, Ziegler und Zöllner dazu. Neben berufsbedingten Unehrlichkeit konnte man auch durch persönliches Fehlverhalten in Unehre geraten. In diesem Fall unterschieden Juristen des 17. Jahrhunderts zwischen der infamia juris und der infamia facti. Von ersterer waren zu Ehrenstrafen verurteilte Straftäter betroffen, letztere war eine soziale Zuschreibung, die sich zum einen auf Personen mit unmoralischem Lebenswandel und zum anderen auf unehelich Geborene bezog. (Nowosadtko, Betrachtungen über den Erwerb von Unehre, S. 234f.)
Unehrlichkeit fungierte innerhalb der ständischen Gesellschaft (Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft), die von einer gottgewollten, prinzipiellen Ungleichheit ihrer Mitglieder ausging, als soziales Distinktionskriterium. Mit ihr ging eine Beschränkung der ständischen Rechte einer Person einher, konkret wurde sie von der Ausübung zünftiger Handwerke, vom Bürgerrecht und von öffentlichen Ehrenämtern ausgeschlossen. Zur Thematisierung von Unehrlichkeit kam es besonders "im Grenz- und Übergangsbereich zwischen den unehrlichen und den ehrbaren Sozialsystemen" (Nowosadtko, Umstrittene Standesgrenzen, S. 167). Vor allem unehrliche Handwerker, die ein anderes, zünftisches Gewerbe betreiben wollten, oder die Forderungen unehrlicher Berufsgruppen an die Obrigkeit, sie ehrlich zu sprechen (Quelle: Supplikation der Markt-, Stadt- und Gerichtsdiener in Österreich unter der Enns an Kaiser Joseph I. wegen Erteilung von Ehrenbriefen 1705), konnten die Unehrlichkeit zum Politikum zwischen Obrigkeit, Zunft und den betroffenen Personen machen. Die Praxis der Abgrenzung gegenüber Unehrlichen war vor allem innerhalb des Zunfthandwerks (Städtischer Gesellschaft, Sozialstruktur der Stadtbewohner/innen) ausgeprägt. Eheliche Geburt von Meister und Frau sowie Vermeidung von Kontakten mit unehrlichen Personen (besonders dem Scharfrichter) und Tieren (v.a. toten Katzen und Hunden) waren Bestandteile dieser Ehre. Die Zünfte "definierten ihre eigene Ehrlichkeit sowohl positiv über die Einhaltung klar definierter Sozialnormen, als auch negativ über eine demonstrative, symbolisch übersteigerte Abgrenzung von den Unehrlichen." (Nowosadtko, Umstrittene Standesgrenzen, 172)
Die unehrlichen Berufe erhielten im Verlauf der Frühen Neuzeit von den Obrigkeiten des Reiches und der Territorien Hilfe durch Legitimierungen und Ehrlichsprechungen, was einer Standeserhöhung gleichkam. Auch Reichsgesetze nahmen sich des Problems der durch die Unehrlichkeit begrenzten sozialen Mobilität an. Die Reichspolizeiordnungen von 1548 (Art. 37, Abs. 1) und 1577 (Art. 38, Abs. 1) forderten einen gleichberechtigten Zugang von Leinewebern, Badern, Schäfern, Müllern, Pfeifern und Trompetern mitsamt deren Kindern zu den Zünften. Außerdem gab es Vorstöße verschiedener Landesherren, die zünftischen Unehrlichkeitszuschreibungen besonders auch unehelich Geborener einzudämmen. Im Verlauf der Frühen Neuzeit geriet die Tatsache, dass Menschen von Geburt an und ohne ihr Verschulden als unehrlich angesehen wurden, zunehmend in Konflikt mit dem bereits daneben existierenden moralisch-sittlichen Ehrbegriff, für den in der Feststellung von Unehrlichkeit die Frage der persönlichen Schuld von zentraler Bedeutung war. So regte das Reichstagsgutachten von 1672 an, dass Söhne von Stadtknechten, Gerichtsdienern, Totengräbern etc. zu den ehrlichen Handwerken zugelassen werden müssten, soweit ihre Väter keine unehrlichen Tätigkeiten (bspw. Teilnahme an der Exekution peinlicher Urteile) verrichtet hätten. Die Reichshandwerksordnung verankerte die Gleichstellung der Kinder von Stadt- und Gerichtsdienern 1731 gesetzlich und regelte außerdem, dass die Kinder und Angehörigen von Abdeckern, insofern diese "eine andere ehrliche Lebens-Art erwählet und darinn ... dreyßig Jahre lang continuiret" zu den Zunfthandwerken zugelassen werden sollten (Reichshandwerksordnung 1731, § IV). 1772 bedurfte es eines weiteren Reichsbeschlusses, um die Unehrlichkeit von Henkern und Abdeckern abzuschaffen.