3.1. Forschungskonzepte
von Reemda Tieben
Als Forschungskonzept bezeichnet man eine Arbeitshypothese als Hilfsmittel der Forschung (heuristisches Prinzip). Die Forschungskonzepte des „ganzen Hauses” und des „Kommunalismus” stellen eine vorläufige Annahme zum Zweck des besseren Verständnisses der historischen Sachverhalte Arbeitsorganisation im Haus und Gemeindeorganisation dar. Diese Forschungskonzepte sind ständiger Diskussion um ihren heuristischen Wert ausgesetzt: Es wird in der Forschung geprüft, ob diese Konzepte mit der historischen „Realität” übereinstimmen und sie fähig sind, historische „Realität” abzubilden. Deshalb kann es vorkommen, dass sich Thesen in Bezug auf z.B. die innere Organisation von Gemeinden (Kommunalismus) mit der Beschreibung der historischen „Realität” (Gemeinde als politisch-rechtlicher Verband) decken bzw. nicht decken. In jedem Fall ist es forschungspraktisch äußerst wichtig, zwischen Forschungskonzepten und der Beschreibung der historischen „Realität” zu unterscheiden.
Gleichzeitig ist zu beachten, dass HistorikerInnen historische „Realität” an sich nicht beschreiben können, denn jede Forschung trägt heutige Arbeitshypothesen, Fragen, Vorannahmen und sprachliche und stilistische Konventionen mit sich, die eine reine Erfassung der vergangenen „Wirklichkeit” unmöglich machen (zu den sprachlichen und stilistischen Konventionen: White, Interpretation und Geschichte). Aus diesem Grund wird hier nur von Realität in Anführungszeichen gesprochen.
3.1.1. Das Forschungskonzept des „Kommunalismus“ (Peter Blickle)
von Reemda Tieben
Peter Blickle entfachte mit seiner These vom „Kommunalismus“ eine Diskussion um eine Neubewertung vom Bild des deutschen Spätmittelalters und der FNZ, indem er auf die Bedeutung von Stadt- und Landgemeinden als starken dynamischen Faktoren, die die damalige soziale und politische Ordnung beeinflussten, hinwies und die Darstellung von Gemeinden als statischen Größen ohne politisches Gewicht ablehnte. In der Gemeinde hätten seit der Auflösung der Villikationsverfassung Bauern und Bürger eine Plattform für ihre politischen Interessen gefunden, z.B. im Streben nach Landstandschaft oder der Organisation von Widerstand.
Das Forschungskonzept des „Kommunalismus“ versucht die deutsche Geschichte „von unten“ – also nicht aus der Sicht des Reiches oder der Territorien - zu periodisieren: Die Epoche von 1300 bis 1800 sei sozial, wirtschaftlich und politisch charakterisiert „durch eine relativ-funktionale Freiheit, eigenverantwortliche Arbeit (in Form des bäuerlichen oder handwerklich-gewerblichen Familienbetriebes) und die politische Berechtigung des Hausvaters. Der institutionelle Rahmen, der dies ermöglicht und sichert, ist die Gemeinde“ (Blickle, Deutsche Untertanen, 76).
„Kommunalismus“ heißt für Blickle, dass „die Organisation gemeinschaftlicher alltäglicher Belange (ausgedrückt in Satzungshoheit, Administration und Rechtspflege), die Friedewahrung nach innen und außen und die aus beiden resultierenden Rechtsnormen als autochthone Rechte einer Gemeinde von allen Mitgliedern in gleicher Berechtigung und Verpflichtung wahrgenommen werden“ (Blickle, Kommunalismus, Parlamentarismus, 535). Dementsprechend bezieht sich der Begriff nicht auf jede Gemeindeform, sondern erfasst „politisch verfasste Gemeinden, die über eine Grundausstattung an Satzungs-, Gerichts- und Strafkompetenz verfügen“ (Blickle, Begriffsbildung, 10). Diese Kompetenzen müssen ihren Niederschlag in Institutionen der ländlichen Gemeinde finden, damit Blickle die politische Organisation und die Handlungen der Bauern als kommunal geprägt anerkennt. Er nennt als Institutionen die Gemeindeversammlung, eine kollegial organisierte Verwaltungsbehörde und das Gericht. Zu den Normen, die in einer kommunal organisierten Gemeinde gegeben sind, zählt Blickle die Friedewahrung, den „gemeinen Nutzen“ und die Hausnotdurft. Wenn diese Normen und Werte massiv bedroht wurden, wehrte sich die kommunal verfasste Gesellschaft, indem sie gegen die Herrschaft, die diese Werte bedrohte, ein „Naturrecht auf Defension“ geltend machte. Die gesellschaftliche Basis des Kommunalismus bildete nach Blickle der „gemeine Mann“: eine zeitgenössische Terminologie für soziale Gruppen, die durch ihre Nichtzugehörigkeit zur Herrschaft von Adel und Geistlichkeit gekennzeichnet waren. Die Kommunalismusforschung betont die Gleichheit und Gleichberechtigung der Mitglieder der Gemeinde, die als Bauern und Bürger selbstverantwortete Arbeit leisteten und ihre inneren Angelegenheiten durch Konsens zu regeln versuchten.
Blickle zieht eine Verbindung zwischen kommunalem Verband und dem „frühen Parlamentarismus“, der Ständeversammlung. Auf dem kommunalen System ruhe die „kommunale Repräsentation“ der Bürger und Bauern, die eine Alternative zu den mehr oder weniger durch den Adel beherrschten Landtagen darstellten. Durch die Landstandschaft der städtischen und ländlichen Gemeinden würden die „Ständeversammlungen zu Repräsentativkörperschaften“, dann wären 95% der Bevölkerung vertreten. Blickle formuliert folgendermaßen: „Repräsentation, allgemeiner Konsens und Öffentlichkeit halten Einzug in den Territorien, in denen sich der Kommunalismus entwickeln konnte.“ (Blickle, Kommunalismus, Parlamentarismus, 540).
3.1.2. Das Forschungskonzept „Das Ganze Haus“
Konzept
Anhand der so genannten Hausväterliteratur des 17./18. Jh. hat Otto Brunner die Prinzipien einer alteuropäischen Lehre des häuslichen Lebens und Wirtschaftens rekonstruiert (Modell ist der landadelige bzw. großbäuerliche Hof). Dieses ist auf die Sicherung der häuslichen Nahrung ausgerichtet; die Marktverflechtung ist gering („Subsistenzwirtschaft“). Das Haus ist zugleich Wirtschafts-, Sozial-, Rechts- und Herrschaftsverband. Als wirtschaftliche „Nahrungsstelle“ (Hof, Meisterstelle etc.) und soziale Grundeinheit der vormodernen Gesellschaft ist es gekennzeichnet durch die Einheit von Produktion und Reproduktion. Gruppiert um die Kernfamilie aus Ehepaar („Arbeitspaar“) und unverheirateten Kindern, umfasst es darüber hinaus alle an der Hauswirtschaft Beteiligten (Gesinde, Alte, evtl. unverheiratete Verwandte etc.). Funktionen: primäre und sekundäre wirtschaftliche Produktion; Fortpflanzung und Kinderaufzucht; Konsumtion; Versorgung von Alten und Kranken; Vermittlung kirchlicher und weltlicher Normen. Der Hausherr übt patriarchale Herrschaft über alle Hausgenossen aus. Nur vermittelt über den Hausherrn (bzw. evtl. seine Witwe) hat der Hausverband an den übergeordneten sozialen Verbänden teil (Dorf, Stadt, Kirchengemeinde etc.).
Funktionsverlust des „Ganzen Hauses“ und Entstehung der „bürgerlichen Familie“
Im späten 18./19. Jh. Auseinandertreten von Familienhaushalt und Betrieb, d.h. zunehmende Verlagerung der wirtschaftlichen Produktion und der Dienstleistungen in von der Familie getrennte Betriebe (Manufaktur, Amt, Fabrik etc.) und Zunahme von bezahlter Erwerbsarbeit (v.a. des Mannes) einerseits, Herausbildung der von wirtschaftlicher Produktion entlasteten familiären „Privatsphäre“ andererseits, deren verbliebene Funktionen emotional und moralisch aufgewertet werden. „Rationalität“ der Betriebsführung und „Sentimentalität“ der Familie treten einander gegenüber. Damit einher geht „Polarisierung der Geschlechterrollen“ (K. Hausen).
Kritik an diesem Modell (Opitz; Troßbach)
- Begrenzte Subsistenzwirtschaft: Die Haushalte von städt. Handwerkern, Beamten, unterständischen Schichten waren schon in der FNZ nicht mehr autark; das Modell trifft höchstens auf eine Minderheit (Bauern, Adel) zu.
- Keine absolute patriarchale Herrschaft: Auch Hausmütter übten Herrschaft aus und handelten in weiten Bereichen des Haushalt autonom, waren eher Partnerinnen als Untergebene des Hausherrn. Ihr Handeln war maßgeblich für die „Hausehre“. Kirchliche und weltliche Obrigkeit konnte in das Haus regulierend eingreifen.
- Hauptvorwurf: Das Konzept verkläre die „vormoderne“, „alteuropäische“ Familie zum romantischen Gegenbild der Moderne und transportiere autoritäre, vordemokratische und patriarchalische Ideale.