3.5. Sozialstruktur der ländlichen Gesellschaft
von Antje Flüchter
Die ländliche Gesellschaft mochte ihre eigenen, kommunalen Angelegenheiten genossenschaftlich regeln und auch der Obrigkeit gegenüber geschlossen auftreten, doch diese Gemeinschaft war alles andere als ein Verband gleichberechtigter Mitglieder.
Die soziale Differenzierung nahm im Laufe der FNZ immer mehr zu. Richard van Dülmen sieht sie im 16. Jh. beginnen und im 18. Jh. auf ihrem Höhepunkt (Dülmen, Dorf, 47).
Für ganz Deutschland wurde um 1800 eine ungefähre zahlenmäßige Parität von Vollbauern, Kleinbauern und Landlosen festgestellt (Saalfeld, Gliederung, 253). Für die einzelnen Regionen und Dörfer gestaltete sich die Lage dagegen sehr unterschiedlich. Die innerdörfliche Differenzierung hing zusammen mit Bevölkerungsbewegungen, aber auch mit agrarischen Krisen und Konjunkturen, wichtig war aber auch das geltende Erbrecht, der Anbau von Sonderkulturen oder einfachem Ackerbau.
Die soziale Differenzierung wurde aber nicht nur durch wirtschaftliche Faktoren und/oder die Zugehörigkeit zur politischen Gemeindeversammlung bestimmt, ebenso wichtig sind Abgrenzung der Lebensstile oder feste Heiratskreise, sowie die Einteilung in Geschlechts- und Altersklassen.
3.5.1. Bauern
von Eva-Maria Lerche
Der Begriff „Bauer“ bezeichnet innerhalb der Dorfgemeinde den Besitzer eines Hofes oder zumindest einer Hofstelle, der ausschließlich von seiner landwirtschaftlichen Arbeit lebt. Daneben wurde der Begriff – in Abgrenzung zum Adel und Bürgertum – allgemein für die ländliche Bevölkerung verwendet. Nur ein kleiner Teil der Dorfbewohner waren Vollbauern, d.h. Besitzer eines Hofes, während der größere Teil der Dorfgemeinde aus Kleinbauern, Tagelöhnern, Landhandwerkern etc. bestand. Im Laufe der FNZ sank der Anteil der Vollbauern weiter.
Die bäuerliche Bevölkerung unterlag meist einer Vielzahl ineinander verschachtelter Herrschaftsverhältnisse und war mindestens dem Landesherrn zu Steuern, oft auch einem Grundherrn zu Abgaben und Diensten verpflichtet. Der Grad der Abhängigkeit (Besitzrecht, persönliche Freiheiten wie Freizügigkeit und Heirat etc.) unterschied sich allerdings regional und nach der vorherrschenden Agrarverfassung, wobei die Grundherrschaft eine größere Eigenständigkeit als die ostelbische Gutsherrschaft bot. In einigen Regionen, z.B. Ostfriesland, gab es auch von der Grundherrschaft freie Bauern mit eigenem Landbesitz.
Innerhalb des Dorfes hatten die Bauern einen hohen sozialen Status und bildeten die soziale und politische Dorfehrbarkeit. An der Gemeindeversammlung als politischem Organ nahmen nur die männlichen Hofbesitzer teil. Trotz des Prinzips der Selbstversorgung war der bäuerliche Haushalt eingebunden in eine Nachbarschafts- und Dorfgemeinde, die sowohl den Arbeitsablauf als auch das soziale Leben regelte und das Überleben sicherte. In Bezug auf die Arbeit zählt hierzu z.B. die Abstimmung der Feldarbeit, das gemeinsame Hüten des Viehs oder die Instandhaltung der Zäune.
Die bäuerliche Familie stellte eine grundlegende wirtschaftliche und soziale Einheit dar („Ganzes Haus“). Als „Arbeitspaar“ leiteten der Bauer und die Bäuerin die Familienwirtschaft, in der auch die Frau eine zentrale Stellung innehatte (geschlechtsspezifische Arbeitsteilung). Die Kernfamilie bestand aus dem Besitzerpaar und dessen Kindern. Zur Hausgemeinschaft zählten daneben auch – soweit vorhanden – unverheiratete Knechte und Mägde, die dem Hausvater bzw. der Hausmutter unterstanden. Eine Mehrgenerationenfamilie war nicht die Regel: Die Großeltern zogen mit der Hofübergabe – sofern sie noch lebten – auf das so genannte Altenteil, dessen Ausstattung allerdings von der wirtschaftlichen Lage des Hofes abhing.
Die Vererbung des Hofes erfolgte regional nach unterschiedlichen Regeln. Während im Süden und Südwesten des Reichsgebietes Realteilung vorherrschte, überwog im Norden, Nordosten und Südosten das Anerbenrecht. Allerdings existierten keine einheitlichen „Erbrechtslandschaften“ (Holenstein, Bauern, 12), selbst innerhalb von Dörfern wurden unterschiedliche Sitten praktiziert. Die geschlossene Vererbung förderte Besitzkonzentration und ständische Abschließung der Großbauern.
Zu dem Hof im engeren Sinne zählten das Bauernhaus, die Hofstatt und der Garten, hinzu kam die Flur aus Äckern, Wiesen, Weiden und Wald. Die bäuerlichen Arbeiten umfassten neben Feldbestellung und Viehhaltung umfangreiche Hausarbeiten wie die Verarbeitung von Lebensmitteln (Milch, Fleisch, Feldfrüchte), die Herstellung und Reparatur von Kleidung, Werkzeug etc. Dabei bestand in vielen Bereichen eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Die auf Subsistenz ausgerichtete Produktion erfolgte für den Eigenbedarf, nur Überschüsse wurden auf dem Markt verkauft oder gegen andere Produkte z.B. der Landhandwerker getauscht.
3.5.2. Handwerker
von Eva-Maria Lerche
Das Landhandwerk, das von Gewerbeformen wie Verlag und Manufaktur abzugrenzen ist, entwickelte sich aus der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft und produzierte für den dörflich-landwirtschaftlichen Bedarf. Agrarische und handwerkliche Tätigkeiten waren eng miteinander verbunden. Kleinbauern, die nicht ausschließlich von der Landwirtschaft leben konnten, arbeiteten nebenberuflich z.B. in der Textilherstellung und -verarbeitung. Ebenso konnten die unterbeschäftigten Landhandwerker ihre Existenz in der Regel nur mit einem Stück Ackerland für die Selbstversorgung sichern.
Durch das Bevölkerungswachstum seit dem Spätmittelalter wuchs die Schicht der Landbewohner, die ihre Existenz nicht mehr durch die Landwirtschaft sichern konnten und auf andere Erwerbsmöglichkeiten ausweichen mussten. Die damit verbundene Ausbreitung des Landhandwerks variierte allerdings regional und wurde von der vorherrschenden Agrarverfassung beeinflusst. In den dicht besiedelten Gebieten Süd- und Westdeutschlands und der Schweiz begünstigte die grundherrschaftliche Struktur und die Erbrechtssitte eine starke Zunahme des Landhandwerks, sodass es sogar das Stadthandwerk zahlenmäßig übertraf. In den ostelbischen gutsherrschaftlichen Gebieten dagegen blieb die Arbeitsteilung zwischen Stadt(handwerk) und Land(wirtschaft) weitgehend bestehen.
Die häufigsten Handwerker auf dem Land waren Schmiede, Müller, Zimmerleute, Rademacher, Leineweber, Schneider und Schuhmacher. Dagegen spielten die Nahrungsmittelgewerbe (Bäcker und Fleischer) aufgrund des hohen Grades der bäuerlichen Selbstversorgung bis ins 19. Jh. eine untergeordnete Rolle. Außer bei den Müllern dominierte der Einmann-Betrieb. Die geringe Auslastung verhinderte eine Spezialisierung der einzelnen Handwerkszweige. Die für die Landwirtschaft unentbehrlichen Schmiede (Hufeisenfertigung, Radbeschlag, Werkzeugherstellung, Reparaturarbeiten) besaßen von den Dorfhandwerkern das größte soziale Prestige. Leineweber, Schneider und Schuster gehörten häufig zur Landarmut und verfügten nur über ein geringes soziales Ansehen. Die Bezahlung der Handwerksprodukte erfolgte oft in Naturalien oder Arbeitsleistungen.
Die Landhandwerker entstammten der Landbevölkerung, nur in Einzelfällen ließen sich städtische Handwerker auf dem Land nieder. Anforderungen an ihre Ausbildung waren geringer als in den Städten; es gab sowohl Landmeister und Gesellen mit – teilweise verkürzter – Lehre als auch angelernte und autodidaktische „Pfuscher“. Die geringere Qualität und v.a. der geringere Lohn waren Gründe für die Versuche der Stadtzünfte, gegen die ländliche Konkurrenz z.B. durch Bannmeilen vorzugehen.
Landzünfte sind bisher – mit Ausnahme der Schweiz (Dubler, Handwerk) – wenig untersucht. In einigen Regionen bildeten sich einzelne Landzünfte, die aber nicht die Durchsetzungskraft der Stadtzünfte erreichten, andere Regionen blieben zunftfrei. In der Schweiz konnten einige Stadtzünfte z.B. in Zürich die Einzünftung der ländlichen Handwerker durchsetzen und sie damit ihrer Kontrolle unterstellen.
3.5.3. Unterbäuerliche Schichten
von Reemda Tieben
Die ländliche Bevölkerung teilte sich in der FNZ in „Vollbauern“ und unterbäuerliche Schichten auf. Schon für das hohe Mittelalter lassen sich unterbäuerliche Schichten nachweisen. Nicht das Auftreten der unterbäuerlichen Schichten war demnach für die FNZ kennzeichnend, sondern die Vergrößerung dieser Schicht (Achilles, Landwirtschaft, 107).
Die unterbäuerlichen Schichten umfassten die Kleinbauern ohne genügend Land für eine ausschließlich agrarische Subsistenz, bloße Hausbesitzer und die land- und hausbesitzlosen Familien. Die „Vollbauern“ konnten demgegenüber ihre Familien allein auf Grundlage der Landwirtschaft ernähren (Mooser, Ländliche Klassengesellschaft, 22 f.).
Die Lebensgrundlage der ländlichen Unterschichten, die aus Nachsiedlern hervorgegangen waren, bildete die kleine Acker- oder Viehwirtschaft, oft auf der Basis von gepachtetem Land und der mehr oder weniger legalen Nutzung der Gemeindeländereien. Hinzu kamen ländliches Handwerk und hausgewerbliche Tätigkeit sowie Lohnarbeit in der Landwirtschaft (Mooser, Ländliche Klassengesellschaft, 23).
Da der substanziellen Intensivierung der Agrarproduktion und der Vermehrung subsistenzsichernder Bauernstellen relativ enge Grenzen gesetzt waren, wurde die ländliche Gesellschaft zu einer stärker sozial differenzierten Gesellschaft. Die durch die Wachstumsdynamik der ländlichen Gesellschaft in der FNZ entstandene Differenzierung entwickelte sich je nach den regional unterschiedlichen Erbgewohnheiten der Besitzenden (idealtypisch: Anerbenrecht oder Realteilung), nach dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Markengrund, nach der ländlichen Gemeindepolitik, der Ansiedlungspolitik der Landes- und Grundherren und nach den unterschiedlichen Möglichkeiten zur Gewerbeausübung (Holenstein, Bauern, 9, 45f.; Ritter, Nachsiedlerschichten, 95f.). Die Forschung geht davon aus, dass sich z.B. in Räumen mit Anerbenrecht nach dem Mittelalter eine - nicht nur auf sozialökonomischen Grundlagen wie in Realteilungsgebieten, sondern auch auf rechtlichen Grundlagen in den Gemeinden beruhende - Dreischichtung des Landvolkes ausbildete (Rösener, Bauern, 168; Ritter, Nachsiedlerschichten,, 95). Für die soziale Differenzierung der ländlichen Bevölkerung spielte also im Anerbengebiet nicht nur der Haus- und Grundbesitz eine Rolle, sondern auch die Berechtigungen innerhalb der gemeindlichen Verbände.
Für das Anerbengebiet Norddeutschlands gilt vermutlich folgende Dreischichtung, welche die Besitz- und Rechtsverhältnisse in der Gemeinde widerspiegelt:
- die Bauern (regional unterschiedliche Bezeichnungen der Bauern),
- die kleinbäuerlichen Kötter,
- die jüngste Sozialschicht.
Es gab zentrale Momente, die Kleinbauern und Landlose bzw. Landarme vereinigten und gemeinsam von den Bauern absetzten. Beide Gruppen mussten durch Erwerbsarbeit für andere ihren Lebensunterhalt verdienen oder wenigstens ergänzen, sie mussten Lebensmittel kaufen oder zumindest zukaufen. Darüber hinaus genossen beide nur mindere Rechte und andere Pflichten in der dörflichen Gemeinde: Sie zahlten oft andere Abgaben, das Weide- und das Schutzgeld, und genossen geringere Allmenderechte als Bauern oder Halbbauern. Existierte eine Gemeindeversammlung, waren sie dort nicht oder nur gesondert vertreten. Außerdem gerieten sowohl Landlose wie auch Kleinbauern häufig in Abhängigkeit von den Vollbauern, von denen sie ein Stück Land pachteten oder für die sie gegen Lohn arbeiteten (Kocka, Weder Stand noch Klasse, 90).
Vom 16. bis 18. Jh. wuchsen die unterbäuerlichen Schichten im Reich parallel zu den Bevölkerungskonjunkturen an. Für das 17. und 18. Jh. sind zwei Wellen von Bevölkerungskonjunkturen auszumachen: vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis in die letzten Jahrzehnte des 18. Jh. sowie die Bevölkerungsexplosion in der zweiten Hälfte des 18. Jh. (Mooser, Unterschichten in Deutschland, 319; Franz, Bauernstand, 215; Henning, Landwirtschaft, 233; Rösener, Bauern, 197f.; Dipper, Übergangsgesellschaft, 60 f.).
3.5.4. Gesinde
von Antje Flüchter
Gesinde, Dienstboten, Knechte, Mägde waren Teil fast jedes Lebensbereichs der ständischen Gesellschaft. Auf dem Land stammte das Gesinde meist aus klein- und unterbäuerlichen Familien, aber auch spätere Hofbauern/ -bäuerinnen mussten sich manchmal als Gesinde verdingen. Die Bedeutung von Dienstboten nahm vom Spätmittelalter zur FNZ zu; besonders wichtig waren Dienstboten in den Regionen, in denen die Viehzucht dominierte. Gesinde war ein flexibles Instrument zur Beschaffung zusätzlicher Arbeitskräfte und erlaubte dadurch kurzfristige Anpassungen an die Familienkonstellationen (z.B. kleine Kinder, nach Sterbefällen).
Als strukturelle Merkmale des Gesindes gelten (Eder, Gesindedienst, 41):
- Hohe regionale und soziale Mobilität:
Der kontinuierliche Dienst des Gesindes auf einem Hof ist ein Klischee, gerade bäuerliches Gesinde wechselte häufig die Dienststelle. Ähnlich wie Handwerkergesellen gehört das Gesinde zu den mobilsten Gruppen der ständischen Gesellschaft. Die soziale Mobilität resultiert daraus, dass der Gesindestatus lange Zeit ein Durchgangsstatus war. Daher ist das Gesinde schwer in die klassischen Schichten oder das Ständemodell einzuordnen. - Phasenzuschreibung im Lebenszyklus:
Der Gesindestatus war lange Zeit ein Durchgangsstatus. Knechte und Mägde waren meist unverheiratet. Die ländliche Jugend verdingte sich als Gesinde, bevor sie selbst einen Haushalt gründete. Daraus resultierte eine relativ kompakte Alterstruktur dieser Gruppe. Der Dienst begann meist mit 10-15 Jahren, nur wenige waren älter als 24 Jahre. Dies änderte sich aber im Laufe des 18. Jh., der Gesindestatus wurde immer mehr zum Lebensschicksal. - Charakter als Anschlussposition des Haushaltes:
Das Gesinde war ein Teil der bäuerlichen Hausgemeinschaft, partizipierte am Hausleben und hatte dabei einen ähnlichen Status wie die Kinder des Bauernpaars. Dementsprechend unterstanden sie der Herrschaft des Hausherren und der Hausmutter, die sich nicht nur auf die Zuweisung von Arbeit beschränkte, sondern auch ein Züchtigungsrecht beinhaltete. Körperliche Züchtigung ist dabei nicht nur als Strafe zu verstehen, sondern „bildete den genuinsten Ausdruck einer ständischen Verfassung, in welcher die herrschaftliche Ordnung die gesamte Person [...] erfaßte“ (Dürr, Dienstbothe, 124). Bei Mägden konnte dieses Verständnis der Herrschaft über den ganzen Körper in der Praxis zu sexuellen Übergriffen führen (vgl. weiterführend Gleixner, Mensch).
Trotzdem hatte das Gesinde auch ein eigenständiges Leben. Die Knechte waren beispielsweise mit in den örtlichen Burschenschaften organisiert, die eine große Bedeutung für die soziale Kontrolle im Dorf hatten (Rügebrauchtum).
Wirtschaftlich war das Gesinde meist besser gestellt als Tagelöhner, dafür war ihre Zukunft noch ungewisser (durch den Anschluss an die Familie war beim Gesinde Kleidung, die tägliche Nahrung etc. gesichert, zudem hatten sie keine Familie zu versorgen). Gesinde verdingte sich für jeweils ein Jahr; der Dienstantritt erfolgte an festgeschriebenen Tagen (v.a. Mariae Lichtmeß, 2.2., Michaelis, 29.9.). Der Vertragsschluss erfolgte durch Handschlag. Der Jahreslohn wurde erst am Ende des Dienstjahres gezahlt, neben Geld bestand er aus Naturalien, Schuhen, Kleidung, Tuch etc.
Im Laufe der FNZ wirkte sich die allgemeine Verstaatlichung auch in diesem Bereich in Form von Gesindeordnungen aus. Als Beginn wird die Augsburger Polizeiordnung von 1530 angesehen, in der ein Maximallohn festgeschrieben und Gesindezeugnisse eingeführt wurden (vgl. Dürr, Dienstbothe). Gesindeordnungen können als staatliche Versuche, diese jugendliche Schicht zu disziplinieren, verstanden werden; vor allem festigten sie aber die bäuerlich-patriarchalische Herrschaft. Die rechtliche Position des Gesindes war schwach, die Ordnungen unterstützten vor allem die Interessen der Hausherren.