7.1. Grundlagen
von Christine Nierhoff
7.1.1. Demographie
Für die Zeit um das Jahr 1600 gehen Forscher von einer Gesamtbevölkerung von ca. 18-20 Millionen Menschen im Heiligen Römischen Reich aus. Schätzungen vermuten ca. 40 000-60 000 im Reich lebende Juden, eine Zahl, die etwa 0,2-0,5% der Gesamtbevölkerung entspricht. Innerhalb Europas sind ähnliche Zahlen zu verzeichnen: Nimmt man eine Gesamtbevölkerung von ca. 200 Millionen Menschen an, so lebten unter ihnen ca. 750 000 Juden – kaum 1%. Zentren jüdischen Lebens waren die zusammengeschlossenen Großreiche Polen und Litauen mit ca. 7% Anteil an der Gesamtbevölkerung.
Im Reichsgebiet siedelten die meisten Juden im 16. und 17. Jh. im Westen, vor allem an Mittel- und Oberrhein, als Kernregion des Kaisertums. Ein Grund war die relativ dichte Besiedlung dieses Gebietes, weitaus wichtiger war allerdings die Zersplitterung in viele kleine Herrschaftsgebiete, die Schutz vor Vertreibungen bieten konnte. Selten konnten sich mittelalterliche jüdische Siedlungen bis in die FNZ halten, die meisten Juden waren im 15. Jh. aus den größeren Städten und Territorien vertrieben worden.
In nur wenigen Städten konnten sich Juden wieder etablieren. Jüdischer Bevölkerungsanteil um 1600:
- Frankfurt a.M.: ca. 15%
- Friedberg: ca. 25%
- Worms: ca. 10%
- Fulda: ca. 25%
7.1.2. Rechtliche Verhältnisse
Die rechtliche Lage der Juden im Reich war unterschiedlich stabil. Sie unterlagen zwar ebenso wie jede andere gesellschaftliche Gruppe in der FNZ besonderen, eigenen Rechten. Ihr Status hing aber in einem hohen Maße vom Wohlwollen des Stadt- oder Landesherren ab, unter dessen Schutz sie standen.
Bis ins 16. Jh. standen alle Juden des Reiches in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Kaiser. Dieser konnte aber gegen Zahlung eines bestimmten Betrages dieses so genannte ‚Judenregal’ einem Territorialherrn überlassen. Alle Juden eines Landes oder einer Stadt waren nun an den jeweiligen Herrn gebunden, der ihnen gegen die Erbringung finanzieller Leistungen Schutz vor Übergriffen, Ausweisungen und Vertreibungen gewährte. In der Regel wurde diese Verpflichtung zusammen mit den Rechten und Pflichten der Juden in einem für jeden Einzelnen angefertigten Schutzbrief schriftlich fixiert. Im Laufe des 16. Jh.s wurden die Juden in die allgemeinen Landesordnungen integriert, es entstanden Judenordnungen, die den einzelnen Schutzbrief ersetzten und für alle Juden eines Territoriums oder einer Stadt deren Aufgaben und Rechte festschrieben. Auffälliges Merkmal der Judenordnungen ist der separierende Charakter – Schutz der christlichen Religion vor „Übergriffen“ durch jüdische Präsenz z.B. bei Prozessionen. Daneben stehen genaue Bestimmungen zum jüdischen Handel und insbesondere zur Pfandleihe und Zinshöhe.
7.1.3. Toleranzpatente
Ideen der Toleranz gegenüber den Juden kamen im 17. und 18. Jh. auf. Ausgehend vom englischen Philosophen John Locke (1632-1704) besann sich ein kleiner Kreis Intellektueller darauf, dass es im Frühchristentum keine Verbindung von Staat und Kirche gegeben habe, somit eine solche ebenso wenig für die Gegenwart postuliert werden könne. Weitere Philosophen folgten den Ideen Lockes mit dem Ziel, Vorurteile abzubauen. Eine gesellschaftlich übergreifende, den Kontinent erreichende Resonanz blieb allerdings zu diesem frühen Zeitpunkt noch aus.
Im Alten Reich formulierte erstmalig Christian Wilhelm von Dohm in der Schrift „Ueber die buergerliche Verbesserung der Juden“ von 1781/1783 Gedanken zu Emanzipation und Integration der Juden. Darin entwickelte Dohm ein Programm, das neun Forderungen enthielt: U. a. sollten Juden die gleichen Rechte wie alle anderen Untertanen eines Landes, Freiheit bei der Berufswahl und Zugang zum Ackerbau erhalten. Zudem sollte eine freie Religionsausübung gewährleistet werden. Alle Schriften zogen nachhaltige Diskussionen und eine breite Resonanz nach sich.
Die ersten Toleranzpatente waren zwar nicht unmittelbare Folge von Dohms Schriften, entstanden aber ebenfalls Ende des 18. Jh.s. Kaiser Joseph II. (1765-1790) verkündete sie als erste staatliche Maßnahmen zur Emanzipation der Juden in den österreichischen Erblanden sowie in Böhmen, Mähren, Schlesien und Ungarn. Mit den Patenten wurden die diskriminierende Kleidung und der Leibzoll abgeschafft sowie freie Berufs- und Wohnungswahl gestattet. Auf der anderen Seite erhielten Juden noch nicht das Recht freier Religionsausübung, da Ziel der Toleranzpatente in erster Linie eine Assimilation an die christliche Gesellschaft war, nicht ein eigenständiges Nebeneinander. So wurde den Juden der öffentliche Gottesdienst und der hebräische Buchdruck verboten, grundsätzlich sogar der Gebrauch des Hebräischen oder Jiddischen außerhalb des privaten Lebens untersagt.
Die Toleranzpatente bildeten als erste staatliche Regelungen somit den Anfang zur Integration der Juden, wobei ihnen allerdings nicht der Status einer Gemeinde zugesprochen wurde: Jeder Jude sollte individuell in die Gesellschaft eingegliedert werden. Trotzdem entfalteten die Edikte eine große Wirkung in ganz Europa und wurden zum Auslöser einer europäischen Diskussion über den Status der Juden, die schließlich im 19. Jh. zu einer weitgehend gelungenen Emanzipation in West- und Mitteleuropa führen konnte.