1.2. Heiliges Römisches Reich deutscher Nation

1.2.1. Das „Reich“

Das "Alte Reich" war kein Staat im modernen Sinne; es entzieht sich modernen verfassungsrechtlichen Kategorien. Es war weder ein Nationalstaat, noch ein Machtstaat, noch auch ein Rechtsstaat, aber auch kein Staatenbund ähnlich der EU. Es hatte keine systematische schriftliche Verfassung; es kannte keine Rechtsgleichheit, auch nicht als Ideal, nicht einmal ein Reichsbürgerrecht; es hatte kein geschlossenes Territorium mit festen Grenzen; es hatte keine souveräne höchste Gewalt, keine unabhängige Exekutive; kein stehendes Heer usw., also alles das, was moderne Staatlichkeit in der Regel kennzeichnet.

Das "Alte Reich" war vielmehr ein im Mittelalter historisch gewachsener, traditionaler, hierarchisch gegliederter, nur lose integrierter Personen-, Rechts- und Leistungsverband sehr unterschiedlicher Glieder mit dem gewählten deutschen König bzw. Kaiser als Oberhaupt. Grundlage des Verbandes war zum einen das mittelalterliche Lehnswesen, das alle Reichsfürsten als Vasallen durch ein persönliches Treueverhältnis an Kaiser und Reich band und deren territoriale Herrschaftsrechte von Kaiser und Reich herleitete und legitimierte. Der Kaiser erhob Anspruch auf universale Schirmherrschaft über die gesamte Christenheit, seine Herrschaft wurde verstanden als Fortsetzung des antiken römischen Kaisertums translatio Imperii auf die Deutschen im Frühmittelalter unter Otto dem Großen). Zum anderen beruhte der Zusammenhalt des Verbandes in der FNZ auf einer Reihe von gemeinsamen Institutionen, die sich in der Zeit der sog. "Reichsreform" oder "Verfassungsverdichtung" (Moraw) um 1500 herausbildeten.

Unmittelbare Glieder des Reiches, d.h. ohne einen anderen Herrn als den Kaiser über sich, waren etwa 100 Territorialherren (Kurfürsten, Fürsten, Grafen, Herren, Prälaten, Ritter) und etwa 50 Reichsstädte. Die verschiedenen Reichsglieder waren von sehr unterschiedlicher Größe, ständischem Rang und politischem Gewicht. Die größten Territorialherren bildeten im Laufe der FNZ die Landeshoheit in ihren Territorien zu quasi-souveräner Stellung aus (Staatsbildungsprozesse), einige wurden im 18. Jh. Könige in Ländern außerhalb des Reiches. Die kleinsten (Reichsritter) hatten oftmals Herrschaft nur über ein paar Bauernhöfe inne. Auch geistliche Amtsträger (Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte, Äbtissinnen) waren Reichsstände und zugleich Inhaber weltlicher Landeshoheit. Das Interesse der Reichsglieder an gemeinsamem politischen Agieren war sehr unterschiedlich ausgeprägt; ebenso die Fähigkeit zu eigenständiger Politik. Die kleinen, mindermächtigen Reichsstände waren vielfältig abhängig von den großen; so bildeten vor allem der Kaiser selbst im katholischen Reichsadel, Brandenburg-Preußen im norddeutsch-prortestantischen Raum Klientelnetze aus. Große und mächtige Reichsstände entzogen sich (vor allem im 18. Jh.) der Loyalität gegenüber dem Reichsganzen, während mittlere und kleine darauf existenziell angewiesen waren.

Der Kreis der Reichsstände schloß sich erst allmählich zu Beginn des 16. Jhs. ab durch gemeinsame Teilhabe an den Reichslasten (v.a. Türkensteuern), Beschickung der Reichstage, Anerkennung der Reichsgerichte und Einbeziehung in die Reichskreise. Zu dem so definierten "deutschen Reich" im engeren Sinne gehörten in der FNZ die Schweizer Eidgenossenschaft, die Niederlande und "Reichsitalien" nicht mehr dazu.

1.2.2. König/Kaiser

Der Kaiser als Reichsoberhaupt war höchster Lehnsherr, höchster Richter, höchster Wahrer von Frieden und Recht im Reich. Seine Macht lag allerdings in erster Linie darin, daß er die höchste Quelle aller Legitimität im Reich war; er verfügte über wenig Möglichkeiten, seinen Willen ohne Zustimmung der mächtigen Reichsglieder durchzusetzen. Er wurde vom festen Kreis der Kurfürsten gewählt, Die Wahlmodalitäten waren in der Goldenen Bulle (1356) auf der Grundlage älteren Gewohnheitsrechts festgeschrieben. Nach Karl V. (1530) ließ sich kein König mehr vom Papst zum Kaiser krönen, sondern die Kaiser führten diesen Titel allein aufgrund der Wahl.

Mit einer Ausnahme (Karl VII. 1742) wurden die Kaiser in der FNZ immer aus dem Haus Habsburg gewählt. Als Territorialherren über einen riesigen Länderkomplex, der teils innerhalb (Österreich), teils außerhalb (Böhmen, Niederlande) des Reiches lag, brachten die Habsburger ihre eigene dynastische "Hausmacht" als Landesherren von Österreich, Ungarn und Böhmen mit, die sich von ihrer Macht als Kaiser nicht immer klar trennen läßt. Für dynastische Kontinuität wurde dadurch gesorgt, dass oft schon zu Lebzeiten des Kaisers sein Nachfolger zum "Römischen König" gewählt wurde. Für jede Wahl musste der Kandidat den Kurfürsten Zugeständnisse machen, die seine Herrschaft stark beschränkten und die traditionellen Rechte der Reichsglieder, insbesondere der Kurfürsten, konservierten (seit 1519 "Wahlkapitulationen" als Reichsgrundgesetze).

Der Kaiser versuchte im Laufe der FNZ mehrmals mit Gewalt, seine Macht auf Kosten der Fürsten zu einer Einheitsgewalt über das ganze Reich auszudehnen, was aber letztlich immer scheiterte (Karl V.  im Schmalkaldischen Krieg, Ferdinand II. im Dreißigjährigen Krieg). Im Laufe der Zeit wurde seine Position durch "Reichsgrundgesetze" immer weiter eingeschränkt, so daß er über immer weniger "Reservatrechte" verfügte, d.h. solche Herrschaftsrechte, die er allein ohne Konsens der Reichsstände ausüben konnte; in allen wichtigen Belangen war er vielmehr an deren auf den Reichstagen zu erbittenden Konsens gebunden.

1.2.3. Reichstage

Reichstage waren das wichtigste Forum gemeinsamer politischer Beschlussfassung und repräsentativer Inszenierung des Reichsverbands:

  • erwachsen aus Kurfürstenversammlungen einerseits und kaiserlichen Hoftagen andererseits
  • fester institutionalisiert seit 1495 („Handhabung Friedens und Rechts“)
  • Teilnehmerkreis schließt sich erst allmählich ab und ist nie ganz unumstritten ("Reichsmatrikel" 1521 als Liste der zu Reichssteuern verpflicheten Stände)
  • ohne schriftlich fixierte "Geschäftsordnung", gehorchen einem festen gewohnheitsrechtlichen Zeremoniell

Reichsglieder wurden vom Kaiser in unregelmäßigen Abständen immer dann zusammengerufen, um Steuern zu bewilligen, über Gesetzgebung und Reichspolitik zu beraten etc. Die Reichstage waren in drei "Kurien" oder "Räte" gegliedert, die zunächst getrennt berieten und Beschlüsse fassten, bevor sie diese Beschlüsse untereinander aushandelten, um zu einem Konsens zu kommen:

  1. Kurfürsten
  2. Fürsten/Grafen/Prälaten/Herren
  3. Städte

Nur einvernehmlich (durch "amicabilis compositio", freundschaftliche Einigung) ausgehandelte Beschlüsse aller Kurien, denen schließlich auch der Kaiser zustimmte, wurden zu "Reichsabschieden". Im Konfliktfall hatten die Mehrheit oder der Kaiser nicht die Macht, Dissentierende zu zwingen (so vor allem in Glaubenssachen). Das führte zu Beginn des 17. Jhs. in eine Krise, die den Reichstag handlungsunfähig machte und zum Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs beitrug. Nach dem Westfälischen Frieden entwickelte sich der 1663 einberufene Reichstag zum "immerwährenden" Gesandtenkongress und zu einem vom Kaiser instrumentalisierbaren politischen Kommunikationszentrum des Reichsverbands in Regensburg.

1.2.4. Reichsgerichte

Der Reichshofrat war das höchste kaiserliche Gericht und zugleich eine kaiserliche Regierungs- und Verwaltungsbehörde in der kaiserlichen Residenz in Wien bzw. Prag. Das Reichskammergericht (zur Wahrung des "Ewigen Landfriedens" seit 1495) als kaiserlich-reichsständisches Gericht seit 1527 in Speyer, seit 1690 in Wetzlar, war maßgebend für die Rezeption des römischen Rechts und die Professionalisierung der Justiz im Reich. Die Kompetenzen der beiden Gerichte waren nicht gegeneinander abgegrenzt. Beide waren höchste Appellationsinstanzen und Instanzen zur Austragung von Konflikten, an denen Reichsstände beteiligt waren. Untertanen der Reichsstände konnten dort gegen ihre Landesherren klagen! Die Gerichte stellten ein bedeutendes Moment zur Verrechtlichung politischer, konfessioneller und sozialer Konflikte dar, die zwar oft nicht abschließend durch Endurteile gelöst, aber entweder zu gütlichem Vergleich gebracht oder zumindest in der Schwebe gehalten und so entschärft wurden.

Zu Reichgerichtsbarkeit ausgezeichnete Überblicksartikel bei:
http://www.zeitenblicke.historicum.net/2004/03/index.htm

1.2.5. Reichskreise

Das Reich als Ganzes hatte weder eine zentrale Verwaltung noch eine militärische Exekutive, es bildete im Lauf der FNZ weder eine zentrale Bürokratie noch ein stehendes Heer aus, also das, was moderne Staaten kennzeichnet. Zur Durchführung von Maßnahmen, für die das Reich als Ganzes zu groß und einzelne Reichsstände zu klein waren, wurden stattdessen seit 1495 bzw. 1521 die so genannten Reichskreise geschaffen, d.h. das Gebiet des Reiches wurde in geographische Kreise eingeteilt, die aus Territorien mehrerer Reichsglieder bestanden und für die regionale Durchführung reichspolitischer Entscheidungen zuständig waren (Besetzung des Reichskammergerichts, Exekution von Reichsgerichtsurteilen, Landfriedenswahrung, Verteidigung nach außen etc.).

1.2.6. Entwicklungstendenzen

Die so genannte "Reichsreform"  1495 etablierte bzw. verstetigte die Reichsinstitutionen, um Rechts- und Friedenswahrung sicherzustellen, und schloß die Reichsglieder enger zusammen. Die Einführung einer ständigen allgemeinen Reichssteuer (Gemeiner Pfennig ) und einer permanenten, von den Ständen besetzten Reichsregierung ("Reichsregiment") scheiterte allerdings.

Im Konflikt um die Reformation scheitert das Bemühen um die sakrale kaiserliche Universalherrschaft.Die pro-lutherischen Reichsstände nahmen Gewissensfreiheit für sich in Anspruch, führen die Reichacht gegen Luther nicht aus und nutzen die Reichstage, um ihre Minderheitsposition zu behaupten. Der Augsburger Religionsfriede 1555 regelte die rechtliche Koexistenz der Reichsglieder jenseits der konfessionellen Spaltung, d.h. auf Reichsebene lösten sich Religion und Recht erstmals voneinander. Jeder Reichsstand durfte fortan in seinem Herrschaftsbereich über die Konfession der Untertanen bestimmen ("cuius regio eius religio"). Die ungelösten Probleme zwischen den Konfessionen brachen in der folgenden Generation wieder auf und führten zur Blockade der Reichsinstitutionen. Das erneute Erstarken der katholischen Konfession, Tendenzen zur Rekatholisierung bzw. die Angst der Protestanten davor führten in den Dreißigjährigen Krieg, in dem der Kaiser noch einmal um die Universalherrschaft im Reich und die Reichsstände um ihre "Libertät" kämpften.

Nach dem Eingreifen der auswärtigen Mächte Schweden und Frankreich gegen den katholischen Kaiser und zugunsten der protestantischen Reichsstände war 1648 der Tiefpunkt der Macht des Kaisers erreicht. Die Landeshoheit der Reichsstände, die zentralen Mitwirkungsrechte des Reichstags und die Gleichberechtigung der Konfessionen wurden im Westfälischen Frieden festgeschrieben. Der Kaiser vermochte im Laufe des 17. Jhs. allerdings seine Macht im Reich wieder zu stärken, indem er ein effizientes Klientelsystem über die kleineren, v.a. geistlichen Reichsglieder aufbaute.

Moderne Staatsbildungsprozesse spielten sich seither endgültig auf der Ebene der großen Reichsterritorien ab (Österreich, Brandenburg-Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg etc.), nicht auf der Ebene des Reichsverbands als Ganzem, der zu schwach integriert war, um zentrale Aufgaben (militärische Verteidigung) gegen den Partikularismus der mächtigen Landesherren durchzuführen. Der machtpolitische Dualismus zwischen den beiden mächtigsten Reichsgliedern Brandenburg-Preußen und Österreich (beide mit Territorienschwerpunkten außerhalb des Reichs selbst) überforderte im 18. Jh. die Integrationskraft des Reiches. Der politische Gegensatz zwischen diesen beiden Großmächten stützte sich auf den konfessionellen Gegensatz und bezog so die Masse der mittleren und kleinen Reichsglieder mit ein. Das Interesse der Großen an der Erhaltung des Reichsverbandes schwand, wie sich in den Kriegen gegen das revolutionäre Frankreich zeigte.

Das Ende des Reiches: Unter dem Einfluss Napoleons 1803 (Reichsdeputationshauptschluss) wurden die geistlichen Territorien aufgelöst ("Herrschaftssäkularisation"), das Kirchengut von Klöstern und Stiftern enteignet ("Eigentumssäkularisation") und die Entmachtung und Mediatisierung der kleinen Reichsstände eingeleitet; die größeren Reichsfürsten teilten deren Territorien und Güter unter sich auf (Säkularisation). 1806 legt Franz II. die Kaiserkrone nieder. Der "Rheinbund" als Bund einzelner souveräner Fürstenstaaten mit Frankreich trat an die Stelle des Reichsverbandes, der aufhörte zu existieren.

1.2.7. Bewertung

Schon in der FNZ selbst war das Reich umstritten. Die einen lobten Friedlichkeit, Konsensorientierung und die "Freiheit" seiner Glieder, die anderen beklagten die Durchsetzungsschwäche und die jahrzehntelange Unausgetragenheit vieler Konflikte.

Seit dem 17. Jh. entwickelte sich ein Reichsjurisprudenz, die die Frage kontrovers behandelte, was für eine Herrschaftsform das Reich habe bzw. bei wem eigentlich die höchste Gewalt, die Souveränität, liege: ob es eine Monarchie mit dem Kaiser als Souverän sei oder eine Aristokratie mit den versammelten Reichsständen, d.h. dem Reichstag als Inhaber der Souveränität, oder ein loser Bund selbständiger einzelner Gemeinwesen, bei dem jeder einzelne Fürst und jeder einzelne Stadtrat die Souveränität über seine Territorien innehabe, oder eine Mischung aus diesen Formen. Die Frage war letztlich unlösbar, weil diese Kategorien in anderen Zusammenhängen entwickelt worden und dem Reich fremd und unangemessen waren. Der Naturrechtslehrer Samuel Pufendorf kam daher in seiner aufsehenerregenden Schrift "De statu Imperii Germanici" (Von der Verfassung des deutschen Reiches) zu dem Urteil, das Reich passe nicht in all diese Kategorien und sei daher einem Monstrum ähnlich. Im 18. Jh. begnügte man sich daher mehr und mehr mit der Aussage, das Reich werde eben "auf teutsch regiert" (Johann Jakob Moser).

Ähnliche Auseinandersetzungen gibt es auch in der historischen Forschung über das Reich. Im 19. Jh., dem großen Zeitalter von Nationalismus und Historismus, der preußisch-protestantisch geprägt war, diente die Geschichtswissenschaft zur nationalen Identitätsstiftung. In diesem Zeichen erschien das Reich des frühen und hohen Mittelalters als die große ruhmreiche Zeit, in der die deutschen Könige als Kaiser mit imperialem Großmachtanspruch herrschten. Alles, was nach der großen Zeit der Stauferkaiser kam, vor allem aber das frühneuzeitliche Reich nach dem Westfälischen Frieden, erschien dagegen als Niedergang, als fortschreitender Verfall der ehemaligen vermeintlichen kaiserlichen Machtkonzentration zugunsten der einzelnen Länder, als Verlust der vermeintlich ehemaligen nationalen Einheit, als dessen neuer Kristallisationskern vielmehr Brandenburg-Preußen erschien.

Die neuere Forschung etwa seit den 1960er Jahren hat demgegenüber herausgearbeitet, dass das Reich nicht an den Maßstäben nationaler Machtsstaaten des 19. Jh.s gemessen werden darf. Umstritten ist aber immer noch die Beurteilung der Effizienz, Rechtsstaatlichkeit und Modernisierungsfähigkeit des Reichsverbands. Die einen betonen, auch das Reich habe staatliche und nationale Strukturen ausgebildet und die Staatlichkeit von Reichsganzem und Einzelterritorien habe sich "komplementär" ergänzt (G. Schmidt), die anderen stellen die vormoderne Struktur des Reiches in den Vordergrund, die sich mit der Frage "Staatlichkeit oder nicht" gerade nicht erfassen läßt (vgl. Schilling und Stollberg-Rilinger in Schnettger). Nämlich:

  • Traditionaler, unsystematischer, vielfach nicht-schriftlicher Charakter des Rechts
  • Konstitutive Bedeutung symbolisch-ritueller Akte für die Stabilität der Reichsordnung (Krönung, Huldigung, Belehnung etc.)
  • Ungleichheit des Rechts, Rechtssystem als Privilegiensystem
  • Tendenzielle Unausgetragenheit der Konflikte und konkurrierenden Rechtsansprüche
  • Hohe Konsensorientierung und schwache zentrale Exekutionsgewalt
  • Mangelnde Trennung von politischer und sozialer Ordnung