4.4. Wandel der Forschungsperspektive
Rechtsgeschichte orientierte sich lange am Maßstab der modernen Staatlichkeit, ging von staatlicher Normsetzung und -durchsetzung aus und begriff die Abweichungen in der Vormoderne als Defizite. Neue sozial- und kulturgeschichtlich orientierte Kriminalitätsgeschichte fragt allgemeiner danach, wie Normen entstehen und ihre Befolgung durchgesetzt wird, nicht nur von offiziellen („staatlichen“) Instanzen, sondern auch informell, etwa durch den sozialen Druck der „Ehre“. Zunehmend werden konkurrierende Normensysteme festgestellt: einerseits die lokalen Normen in der face-to-face-Gesellschaft, andererseits die Normen der Zentralgewalt und der sie tragenden gelehrten Eliten. Letztere setzen sich im Laufe der FNZ zunehmend gegenüber ersteren durch. Es besteht die Tendenz zu konkurrierenden wertenden Beurteilungen dieses Prozesses seitens der Historiker:
- Als zunehmende Unterdrückung der Volkskultur, Disziplinierung von oben, Strafgewalt anstatt autonomer Konfliktregelung im Sinne sozialen Ausgleichs?
- Oder als zunehmende Verrechtlichung, Durchsetzung unabhängiger staatlicher Justizhoheit, die der abstrakten Gerechtigkeit „ohne Ansehen der Person“ zum Durchbruch verhilft?
Tatsächlich kommt es zu komplexen Wechselwirkungen, Aushandlungsprozessen und „Justiznutzung“ seitens der Untertanen. Obrigkeitliche Justiz wird teils von oben oktroyiert, teils aber auch von unten nachgefragt (Bsp. Hexenverfolgung).
These: Es besteht ein struktureller Bedarf nach einer unabhängigen konfliktschlichtenden Instanz, weil die lokalen Mechanismen der Normkontrolle zunehmend versagen.