6.1 Einleitung

von Tim Neu
 
Das Politische ist ja doch das einzig Interessante an der Menschengeschichte.
(Thomas Bernhard)
 

Auch wenn man diese sicherlich extreme Einschätzung der Relevanz des Politischen aus der Feder des österreichischen Schriftstellers nicht teilen muß, so werden dennoch die meisten Historiker der weniger radikalen Einsicht zustimmen, daß mit dem Politischen "ein integrierender Bestandteil unserer Geschichte und Kultur und infolgedessen auch unserer Geschichtskultur" (Reinhard, Kultur, 593) angesprochen ist. Kriegserklärungen und Friedensschlüsse, Wahlen und Krönungen, Gesetze und Parteiprogramme, Diktaturen und Demokratien: Alle diese Phänomene würde man heute ohne weiteres mit dem Attribut ‘politisch’ kennzeichnen.

Was aber ist überhaupt das ‘Politische’, dem offenbar eine so große Bedeutung für unsere Geschichte zukommt? Bezeichnet man mit diesem Terminus die Summe der Handlungen der für das Gemeinwesen verantwortlichen Menschen, sprich der ‘Politiker’? Oder sind die Inhalte der immer zahlreicher werdenden ‘Bindestrich-Politiken’ gemeint, also die Regelungsmaterien von Sozial-, Außen-, Wirtschaftspolitik etc.? Und sind nicht die punktuellen Handlungen immer schon eingebettet in überdauernde politische Strukturen, seien diese formeller (z. B. Freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes) oder informeller Art (z. B. bundestagsinterne Kontaktsysteme)? Faßt man diese strukturellen Rahmen unter dem Begriff des ‘Politischen’? Nicht zuletzt stellt sich die für Historiker wichtigste Frage, ob nämlich der Begriff des ‘Politischen’ - was immer aus heutiger wissenschaftlicher Sicht darunter zu verstehen ist - einen ‘historischen Index’ hat, ob er also einem Wandel unterliegt und in der FNZ nicht vielleicht andere Vorstellungen in Bezug auf das ‘Politische’ herrschend waren.

Wenn also schon der Begriff des ‘Politischen’ selbst problematisch ist und näherer Erläuterung sowie historischer Kontextualisierung bedarf, dann gilt dies ebenso für die ‘Politische Theorie’. Wie verhält sich ‘Politische Theorie’ zu dem Geflecht von Handlungen, Inhalten und Strukturen der ‘politischen Praxis’? Was meint in diesem Zusammenhang ‘Theorie’, normative Vorschriften oder empirische Analysen? Ist auch hier mit einem historischen Index zu rechnen, gibt es also eine Geschichte der Politischen Theorie? Und vor allem: Gesetzt den Fall, Thomas Bernhard und Wolfgang Reinhard hätten Recht und das ‘Politische’ ist ein wichtiges und interessantes Phänomen, gilt dies auch für die ‘Politische Theorie’? Warum ist es gerade für die Frühe Neuzeit wichtig, sich mit ‘Politischer Theorie’ zu befassen? Und welche Ansätze und Entwicklungen gab es konkret?

Dieses Unterkapitel nimmt sich der oben aufgeworfenen Fragen an, versucht Antworten zu skizzieren und zum eigenen Weiterlesen anzuregen. Zuerst werden daher grundsätzliche Überlegungen zu Begriff und Gegenstand der Politischen Theorie angestellt. In den folgenden inhaltlichen Abschnitten stehen konzeptionell dann die ‘großen Themen’, die innerhalb der Politischen Theorie der FNZ verhandelt wurden, im Mittelpunkt. Daher sind die jeweils herangezogenen zeitgenössischen Autoren und die Auszüge aus ihren Werken nur als nützliche Illustrationen zu den im Zentrum stehenden Themen zu verstehen. Eine adäquate Besprechung oder gar Kategorisierung der Autoren und ihrer Werke kann daher hier nicht geleistet werden und die meisten Denker ließen sich ohnehin zu mehreren Themen zitieren. Biographische Informationen sowie Links und Literaturhinweise zu den jeweils zitierten Denkern finden sich dann in den Glossareinträgen.

Aufbau des Kapitels

Im Abschnitt 6.2 wird die ‘Politische Theorie’ als Gegenstand eingeführt. Dazu gehört neben der Formulierung ihrer Aufgaben und Gegenstände auch die Formulierung eines hinreichend abstrakten Begriffs des Politischen, der als Analysekategorie dienen kann. Zusätzlich wird auf zwei wesentliche Grundlagen in der Beschäftigung mit Politischer Theorie der FNZ gesondert hingewiesen: die Nicht-Identität des Politischem mit dem Staat einerseits (Vgl. Schmitt, Begriff, 20ff.) und der Prozeß der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung des Politischen (Vgl. Luhmann, Politik, 69ff.).

Es entsteht nicht in jeder geschichtlichen Epoche und in jedem Gemeinwesen schon Politische Theorie, nur weil es politische Handlungen und Strukturen gibt, denn diese können als so selbstverständlich, unveränderbar und gerechtfertigt erscheinen, daß einfach nicht genügend Potential an kritischen Fragen an die politische Praxis zusammenkommt, das eine reflexive, also theoretische Betrachtung von Politik begründen könnte. Theorie ist immer auch eine Reaktion auf eine Krise der Praxis und entsteht "aus konkretem Bedarf an der intellektuellen Bewältigung instabiler Machtverhältnisse, sei es in legitimatorischer oder in kritischer Absicht" (Reinhard, Staatsgewalt, 101). Für die FNZ sind drei solche praktischen Probleme zu nennen, die erhebliche theoretische Anstrengungen ausgelöst haben. Daher geht es in Abschnitt 6.3 um diese gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozesse, deren Auswirkungen eine wichtige Herausforderung für die politischen Denker darstellten: 1.) Das Wachstum der Staatsgewalt, 2.) Der Verlust der religiösen Einheit und 3.) Die Wissenschaftliche Revolution.

Die dann folgenden Abschnitte 6.4 bis 6.7 lassen sich hier zusammenfassen, denn sie alle haben eines der großen ‘Themen’ der Politischen Theorie der FNZ zum Gegenstand, das jeweils anhand geeigneter Autoren in verschiedene thematische Einheiten untergliedert wird. Eine Besonderheit stellt dabei das Thema ‘Modernes Naturrecht’ dar. Dieses wird wegen seiner überragenden Bedeutung für die Politische Theorie etwas ausführlicher behandelt.