6.3 Zentrale Herausforderungen an die Politische Theorie der FNZ
von Tim Neu
Es entsteht nicht in jeder geschichtlichen Epoche und in jedem Gemeinwesen schon Politische Theorie, nur weil es politische Handlungen und Strukturen gibt, denn diese können als so selbstverständlich, unveränderbar und gerechtfertigt erscheinen, daß einfach nicht genügend Potential an kritischen Fragen an die politische Praxis zusammenkommt, das eine reflexive, also theoretische Betrachtung von Politik begründen könnte. Theorie ist immer auch eine Reaktion auf eine Krise der Praxis und entsteht "aus konkretem Bedarf an der intellektuellen Bewältigung instabiler Machtverhältnisse, sei es in legitimatorischer oder in kritischer Absicht" (Reinhard, Staatsgewalt, 101). Weltgeschichtlich sind es die Griechen gewesen, die die Politische Theorie im Sinne einer begrifflich-argumentativen Betrachtung der Praxis zuerst ‘erfunden’ haben (vgl. Höffe, Einführung, 5).
Für die FNZ sind drei solche praktischen Probleme zu nennen, die erhebliche theoretische Anstrengungen ausgelöst haben. Daher geht es in diesem Abschnitt um diese gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozesse, deren Auswirkungen eine wichtige Herausforderung für die politischen Denker darstellten:
6.3.1 Das Wachstum der Staatsgewalt
von Tim Neu
Zu den wichtigsten Entwicklungen auf der Ebene der Politik in der FNZ gehört sicherlich das Wachstum der Staatlichkeit. Dieser Zuwachs an Herrschaft und Gewalt kam hauptsächlich den dynastischen Herrschern der (west-)europäischen Monarchien zugute und wurde auch von diesen maßgeblich vorangetrieben, wenngleich nicht durchweg mit Absicht. Wo Gemeinwesen als lockere dynastisch-monarchische Herrschaftsverbände aus dem Mittelalter kamen, da entwickelten sie sich im Laufe der FNZ mehr und mehr zu institutionell gefestigten Staaten im klassischen Sinn.
Die königlichen Aufgaben im Typus der ständischen Monarchie erschöpften sich zu Beginn der FNZ im Wesentlichen in der ‘Wahrung von Friede und Recht’, waren also ausgerichtet auf die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der bestehenden Ordnung. Der König verfügte über kein Gewalt- und Herrschaftsmonopol, sondern stand einem hierarchisch gegliederten sog. ‘Personenverbandsstaat’ vor, in dem auf jeder Ebene Inhaber von autonomer Herrschaft und Gewalt vorhanden waren. Die wichtigsten dieser ebenfalls Herrschaft ausübenden Gewalten waren die Adeligen, die Kirchen und die Land- und Stadtgemeinden. Die Aufwendungen für die königlichen Aufgaben hatte der Monarch im Wesentlichen von seinen Eigengütern aufzubringen und eine ausnahmsweise Abschöpfung der Ressourcen seiner Untertanen erforderte im Regelfall deren Zustimmung.
Wenn nun vom ‘Wachstum der Staatsgewalt’ die Rede ist, dann umfaßt dieser Begriff tiefgreifende Veränderungen an fast allen oben genannten Strukturmerkmalen der alten Monarchien. Die Könige beanspruchten nun nicht mehr nur passive Bewahrungs-, sondern zunehmend aktive Steuerungsfunktionen in der Gesellschaft (z. B. Polizeyordnungen) und begannen die konkurrierenden ‘Partikularmächte’ (Adel, Kirche, Gemeinden) zu entmachten. Ein zentraler Entwicklungsfaktor war dabei der Zusammenhang von verstetigter Ressourcenabschöpfung (permanente Steuern) mit gleichzeitigem Aufbau eines Erzwingungsapparates (Militär und Bürokratie): Mehr Ressourcenabschöpfung ermöglichte mehr Exekutionsmacht, diese erforderte ihrerseits weiter erhöhte Ressourcenabschöpfung usw. - ein sich selbst verstärkender Prozeß, der sog. ‘extraction-coercion-cycle’ (vgl. Tilly, Coercion).
Diese ungeheure Steigerung, Intensivierung und Ausweitung des Herrschafts- und Gewaltpotentials in den Händen der Monarchen stellte natürlich eine enorme Veränderung der politischen Rahmenbedingungen dar und gab Anlaß zu Fragen an die Politische Theorie:
- Herrschaft war seit der Antike immer als personale Herrschaft gedacht worden und daher war die Frage nach der ‘guten’ Herrschaft gleichbedeutend mit der Frage nach den moralisch-sittlichen Anforderungen an den ‘guten’ Herrscher: Die Politik wurde im Medium der Moral behandelt, was sich im Besonderen in der Literaturgattung der ‘Fürstenspiegel’ zeigte. Da aber die Herrschaft mehr und mehr den personalen Charakter verlor und zu einer unübersichtlichen Institution wurde, die dazu noch die Trennung von Amt und Person zumindest verlangte, stellte sich die Frage, ob man die Politik mit moralischen Normen noch adäquat beschreiben bzw. beeinflussen konnte. Das Verhältnis von Politik und der sie bisher fundierenden Moral wurde problematisch.
- Zugleich war Politik in der christlichen Tradition nie als Selbstzweck, sondern immer nur als Mittel und notwendiges Übel gegen die Sündhaftigkeit der Menschen konzipiert worden. Aber diese Überzeugung wurde dadurch in Frage gestellt, daß das Wachstum der Staatsgewalt sich offenbar diesem Zweck-Mittel-Schema widersetzte, denn der Zweck der monarchischen Machtakkumulation lag ja nicht mehr außerhalb, etwa in der Restauration eines früheren, besseren Zustandes, sondern die Machtakkumulation wurde vom Monarchen als solche erstrebt, "und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu gefährden" (Hobbes, Leviathan, 95), wie es der Philosoph Thomas Hobbes 1651 ausdrückte. Damit trat die Frage nach dem Eigenwert und der Autonomie des Politischen auf den Plan.
6.3.2 Der Verlust der religiösen Einheit
von Tim Neu
Nicht nur das ‘Wachstum der Staatsgewalt’ stellte eine wichtige Herausforderung an die Politische Theorie der FNZ dar. Daneben ist der zweite ‘Fundamentalprozeß’ (vgl. Schilling, Profil, 8ff.) der FNZ zu nennen, der so erhebliche politisch-praktische Auswirkungen zeitigte, daß er von den politischen Denkern aufgegriffen werden mußte: Die durch die Reformation ausgelöste ‘Glaubensspaltung’ und im Anschluß daran einsetzende ‘Konfessionalisierung’.
Im Teilabschnitt über die Ausdifferenzierung des Politischen in der FNZ war schon ganz allgemein davon die Rede gewesen, daß die politische Praxis der Vormoderne als aufs engste verzahnt mit und beeinflußt von nicht-politischen Faktoren verstanden werden muß. Ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste dieser extrapolitischen Wirkmomente war nun die Religion, das (lateinische) Christentum. Seit der in der Spätantike erfolgten innigen Verbindung von römischem Reich und christlichem Glauben war Politik nur mehr als christliche Politik zu denken und zu konzipieren. Das Christentum bildete das unerschütterliche Fundament, von dem her sich weltlich-politische Herrschaft sowohl legitimieren konnte, aber auch beschränken lassen mußte. Konkret bedeutete dies eine fast vollständige Durchsetzung des Politischen mit religiösen Ansprüchen:
- Die politische Herrschaft sei göttlichen Ursprungs.
- Die politische Herrschaft verfolge ein religiöses Ziel.
- Die Mittel der politischen Herrschaft, die Gesetze, dürften den göttlichen Gesetzen nicht widersprechen.
Es kommt hinzu, daß das Christentum als monotheistische Buchreligion einen extremen Absolutheitsanspruch erhebt: Es gibt für den Menschen weder Wahrheit noch Erlösung außerhalb des christlichen Glaubens! Da aber die Politik und ihre Hauptaufgaben ‘Friede und Recht’ als wesentliche Elemente des göttlichen Heilsgeschehens vorgestellt wurden, konnte es mit Heiden / Häretikern, die ja außerhalb der Kirche standen, im strengen Sinne weder ‘wahren’ Frieden noch ‘echte’ Rechtsbeziehungen geben.
Im Verlaufe der Reformation zerbrach die Einheit der lateinischen Christenheit und aus der Alten Kirche entstanden die drei neuen sog. ‘Konfessionskirchen’ der Lutheraner, Katholiken und Reformierten (Dimensionen der Konfessionalisierung; 2.2.1. Konzepte). Diese unterschieden sich fundamental in ihrer jeweiligen Auslegung des Christentums und betrachteten und behandelten die Angehörigen der gegnerischen Konfessionen als Ketzer.
Neben vielen anderen Auswirkungen führte der Verlust der Glaubenseinheit in Bezug auf das hier im Mittelpunkt stehende Feld des Politischen zu einer folgenreichen Konstellation: Einerseits standen die meisten Gemeinwesen bald vor der Situation, daß ihre Untertanen unterschiedlichen Konfessionen anhingen. Andererseits galt aber auch nach der Glaubensspaltung für das zentrale Mittel der Politik weiterhin, daß das "Recht […] im katholischen wie im evangelischen Verständnis letztlich durch die Glaubenslehren begründet und begrenzt" wurde. Da aber nunmehr jede Konfession ihrerseits Anspruch auf absolute Wahrheit erhob und ihre Gegner verketzerte, war die Folge unausweichlich: "Die Glaubensspaltung hatte […] eine tiefe innere Spaltung der Rechtsordnung zur Folge" (beide Zitate: Heckel, Krise, 113).
Die Krise der Religion war somit gleichzeitig eine tiefe Krise des werdenden Staates. Damit wurde ein bisher selbstverständliches Fundament für politische Praxis und Theorie gleichermaßen in höchster Weise problematisch: Das Verhältnis von Religion und Politik!
Für politische Denker, für die Kopplung von Politik und Religion unabdingbar war, und diese waren sicherlich in der Mehrheit, stellten sich dann u. a. Fragen folgender Art: "Konnte ein Katholik mit Lutheranern, ein Calvinist mit Katholiken mehr vereinbaren als momentanen Gewaltverzicht, mehr als die schon immer im Umgang mit Heiden allenfalls mögliche ›pax inquia‹? Ja, war die ›pax iusta‹ nicht letztlich nur durch Krieg wiederzuerringen, einen Krieg, bei dem es nicht um einzelne strittige Rechtspositionen im Rahmen einer alle einenden Rechtsordnung ging, sondern um die Rechtsordnung selbst? Mußte die falsche Rechtsordnung der Ketzer nicht vernichtet werden, ehe wahrer Friede einkehren konnte?" (Gotthard, Konfessionskrieg, 155f.). Alternativ wurde - wie in der Gruppe der politiques in Frankreich (Souveränitätslehre (Bodin)) – auch über eine Trennung von Politik und Religion nachgedacht, wobei diese Lösung zu dem Folgeproblem führte, daß dann offensichtlich "angesichts religiöser Partikularisierung das Gemeinwesen einer eigenen Legitimation bedürfe" (Bermbach, Widerstandsrecht, 131).
6.3.3 Die Wissenschaftliche Revolution
von Tim Neu
Nachdem in den beiden ersten Teilabschnitten herausgearbeitet wurde, daß sowohl strukturelle Veränderungen im Handlungsraum des Politischen selbst (6.3.1 Das Wachstum der Staatsgewalt) als auch die Konsequenzen des grundlegenden religiösen Wandels (6.3.2 Der Verlust der religiösen Einheit) zu ihrer intellektuellen Bewältigung erhebliche Anstrengungen von Seiten der politischen Denker erforderten, muß noch auf die Herausforderung aufmerksam gemacht werden, die die sog. ‘Wissenschaftliche Revolution’ für die Politische Theorie darstellte.
Die hier relevanten Unterschiede zwischen ‘alter’ und ‘neuer’ Wissenschaft können holzschnittartig an vier Elementen skizziert werden: Erklärungsmuster, Orientierung, Hauptmetapher und Methode:
‘alte’ Wissenschaft | ‘neue’ Wissenschaft | |
Erklärungsmuster: | Teleologisch | Kausal |
Orientierung: | Autorität von Texten | Unmittelbare Erfahrung |
Hauptmetapher: | Organismus | Maschine |
Methode: | Deduktiv | Induktiv |
Die ‘alte’ Wissenschaft, die sich wesentlich auf die Werke des Aristoteles stützte, erklärte Naturphänomene im Wesentlichen teleologisch. Das griechische Wort ‘telos’ bedeutet Ziel oder Zweck, daher spricht man in diesem Zusammenhang auch von Zweckursachen. Eine solche Erklärung schreibt allen natürlichen Dingen ein in ihnen liegendes Potential zu, auf dessen Entfaltung sie normalerweise hinstreben, so züngeln die Flammen eines Feuers deshalb nach oben, weil die Aufwärtsbewegung in ihnen potentiell angelegt ist. Daher war die Metapher, analog zu welcher man die Natur verstand, auch der lebende Organismus, der ganz offensichtlich in ihm liegende Potentiale verwirklicht, so wie der Same zum Baum wird. Zugleich stütze sich die Wissenschaft hauptsächlich auf die Autorität von zumeist antiken Texten, aus denen sie die als allgemein und notwendig anerkannten Gesetze übernahm, aus welchen dann die vorfindbaren natürlichen Ereignisse ‘abgeleitet’, eben deduziert, werden konnten.
Die ‘neue’ Wissenschaft brach mit diesen Überzeugungen und behauptete weitgehend das Gegenteil: "Wer die Wahrheit über die natürliche Welt erkennen wolle, dürfe sich nicht auf die Autorität der Bücher verlassen, sondern müsse sich auf den eigenen Verstand und die Gegebenheiten der natürlichen Realität stützen" (Shapin, Revolution, 83). Es kam zu einer ‘Mechanisierung’ der Natur, die man nun nicht mehr als Organismus, sondern als Maschine imaginierte, und damit zu einer Tilgung aller teleologischen Selbstzwecke der natürlichen Dinge, deren Bewegungen nur noch mechanisch-kausal, also durch Ursache und Wirkung beschrieben wurden. Als am folgenreichsten erwies sich jedoch die Einführung einer neuen Methode! Nach dieser mußte man "von dem akkumulierten - aus Beobachtung und Experiment stammenden - Wissen über Einzelfälle ausgehen und die Erkenntnis der Kausalzusammenhänge und der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten darauf aufbauen; das heißt, es handelte sich um eine induktive, auf empirischem Wissen gründende Methode" (Shapin, Revolution, 108).
Warum aber soll diese - wenn auch ‘revolutionäre - Veränderung der Wissenschaft für das Nachdenken über das Politische von Bedeutung sein? Die Bedeutsamkeit kommt über die in der oben entwickelten Fassung des Begriffs (Was ist Politische Theorie?) enthaltende methodische Komponente zustande, denn Politische Theorie wurde nicht nur als Nachdenken über Praxis, sondern als methodisch geleitetes Nachdenken bestimmt. Jedem politiktheoretischen Gedankengang liegt daher ein methodisches Fundament zugrunde, auch wenn dies in den meisten Fällen von den Autoren nicht explizit angesprochen oder gar begründet wird. Da nun die Frage der ‘richtigen’ wissenschaftlichen Methode einer der zentralen Streitpunkte zwischen ‘alter’ und ‘neuer’ Wissenschaft war, konnte auch die Politische Theorie einer kritischen Überprüfung ihrer eigenen methodischen Annahmen nicht ausweichen, wollte sie nicht Gefahr laufen, den neuen Standards von ‘Wissenschaftlichkeit’ nicht zu genügen.
Das Verdienst, die vor allem in den ‘Naturwissenschaften’ entwickelten neuen Methoden (more geometrico) für das Politische Denken nutzbar gemacht zu haben, gebührt dabei dem modernen Naturrecht und vor allem seinem Begründer, Thomas Hobbes (1588-1679), denn für diesen stand fest, daß die "alten Moralphilosophen […] nicht über die richtige Methode [sc. verfügten], um die erforderlichen Erkenntnisse für die Begründung und Anleitung einer erfolgreichen Friedenspraxis zu gewinnen und sichere Fundamente für das menschliche Zusammenleben bereitzustellen" (Kersting, Philosophie, 60).