6.4 Staatsräsonlehren

von Tim Neu
 

Die hier vorgestellten Ansätze und Autoren eint die Vorstellung, daß es eine Eigengesetzlichkeit des politischen Handelns gibt, die grundsätzlich unabhängig ist von moralischen und religiösen Ansprüchen, eine Konzeption, die für das traditionelle politische Denken eine extreme Provokation darstellte. Ausgehend von dieser Prämisse der Eigenlogik des Staates, seit dem frühen 16. Jh. unter dem Terminus ‘Staatsräson’ bekannt und berüchtigt, stehen im Mittelpunkt der Schriften dieser Autoren Versuche, möglichst konkret und wertneutral die Techniken der politischen Machtgewinnung und -erhaltung zu beschreiben, oder wie es Giovanni Botero, einer der frühen Autoren dieser neuen Lehre, 1589 mustergültig formulierte: "Staatsraison ist Kunde von Mitteln, die geeignet sind, eine Herrschaft zu begründen, zu erhalten und zu erweitern" (zitiert nach Reinhard, Humanismus, 252). Zentralbegriffe waren daher utilitas (Nützlichkeit) der Mittel und necessitas (Notwendigkeit), die von moralischen, rechtlichen und religiösen Rücksichten dispensieren konnte.

Diese Ansätze zu einer solchermaßen hauptsächlich empirisch fundierten Analyse der staatlichen Machttechniken sind am besten zu verstehen als Reaktion auf das beginnende Wachstum der Staatsgewalt und die damit einhergehenden Schübe der Ausdifferenzierung des Politischen, bzw. als Versuch, diese Entwicklungen zu legitimieren und in das politische Denken einzubinden. Man kann pointiert sagen, daß die Eigengesetzlichkeit des Politischen im Italien der Renaissance ‘entdeckt’ und zu einer Politischen Klugheitslehre (6.4.1) entwickelt wurde, die die zum Machterhalt nötigen Mittel beschrieb, wobei diese jedoch noch relativ unverbunden nebeneinander standen. Erst in der Lehre von der Souveränität (6.4.2) wurde diese Vielzahl von politischen Mitteln zu einer (zumindest in der Theorie!) einheitlichen staatlichen Kompetenz ‘vereinheitlicht’, nämlich zur Gesetzgebungsgewalt. Diese Steigerung der Autonomie des Politischen stand in Verbindung mit dem inzwischen eingetretenen Verlust der religiösen Einheit, der für die Politische Klugheitslehre eines Machiavelli noch kein Problem darstellte. Eine weitere und ins Normative umschlagende Überhöhung der protostaatlichen Zentralgewalt findet man dann in den absolutistischen Lehren des Patriarchalismus und des Gottesgnadentums (6.4.3), die zwar die Wertneutralität der politischen Klugheitslehren aufgeben, aber die ebenfalls die Staatsräson zum Zentrum ihrer Überlegungen machten.

6.4.1 Politische Klugheitslehre (Machiavelli)

von Tim Neu
 

Der Begriff der ‘Staatsräson’ wurde im Italien des frühen 16. Jhs. von Francesco Guicciardini erfunden, der in seinem Dialogo del Reggimento di Firenze (1526) von "ragione e uso degli stati" (Guicciardini, Dialogo, 163) sprach. Der Begriff verbreitete sich danach schnell und wurde zuerst 1589 von Giovanni Botero in seinem Werk Della Ragion di Stato ausdrücklich zu einem eigenen Gegenstand des politischen Denkens gemacht und umfassend behandelt. Allerdings wird zumeist nicht der Name Guicciardinis mit dem Begriff der Staatsräson und der dahinter stehenden Lehre verbunden, sondern der seines Florentiner Landmannes und Zeitgenossen Niccolò Machiavelli (1469-1527).

Die Entstehung einer politischen Klugheitslehre unter dem Leitbegriff der ‘Staatsräson’ fiel dabei in eine Zeit vielfältiger politischer Wirren im Italien der Renaissance. 1494 war Karl VIII. von Frankreich in Italien einmarschiert, hatte dadurch das Eingreifen der spanisch-habsburgischen Partei provoziert und so eine über vierzigjährige relative Stabilität der fünf italienischen Mächte (Mailand, Venedig, Florenz, Neapel und der Kirchenstaat) beendet. Hatte schon die Philosophie der Renaissance die Vorstellung einer der Natur immanenten Sinnhaftigkeit erschüttert und eine säkulare Geschichtskonzeption entworfen, so bildete sich nun durch die zusätzlichen politischen Wirren eine Situation, in der das politische Denken radikal neue Wege gehen mußte.

Gegen die normativ aufgeladenen Lehren des christlichen Herrschaftsethos, wie sie z. B. die Fürstenspiegel kundtaten, kam es zum Durchbruch eines neuartigen ‘politischen Realismus’, der unter Absehung der Ansprüche von Moral und Religion das Funktionieren von praktischer Politik beschreiben und aus konkreten Beispielen anstatt abstrakten Normen Nutzen ziehen wollte.

Der zentrale Erkenntnisgewinn für die Politische Theorie war daher die ‘Entdeckung’ der Eigengesetzlichkeit des Politischen, dessen interne Logik sich eben nicht mit der von Moral oder Religion zur Deckung bringen lies. Ins Zentrum rückten nun die konkreten Machtmechanismen und die "Universalethik der Scholastik und des Humanismus wird aufgelöst in eine situationsadäquate Technik der Politik" (Münkler, Staatsraison, 39). Die Tatsache, daß die damit ‘entdeckte’ Staatsräson durchaus unmoralische Handlungen rechtfertigte, brachte die politischen Klugheitslehren gleichwohl unter dem Schlagwort ‘Machiavellismus’ über Jahrhunderte in Verruf.

Allerdings glichen die so entstehenden Staatsräsonlehren eher zusammengestellten Rezeptbüchern als systematischen Anleitungen; sie präsentierten jeweils eine ganze Reihe von Mitteln der Machtgewinnung und -erhaltung; dazu zählten "Herrschertugenden, die richtige (!) Behandlung der Untertanen, Befestigungen und Intrigen gegen äußere Feinde, Geld und eine blühende Wirtschaft, schließlich der sachgerecht geführte Krieg." (Reinhard, Humanismus, 252).

6.4.2 Souveränitätslehre (Bodin)

von Tim Neu
 

Die Lehren von der politischen Klugheit (prudentia) des letzten Teilabschnitts waren zu Beginn des 16. Jhs. aus der ‘Entdeckung’ der sich intensivierenden Staatsgewalt entstanden. 1513 schrieb Machiavelli sein Traktat über den Fürsten. Es sollten aber noch vier Jahre vergehen, bis der Wittenberger Theologieprofessor Martin Luther seine 95 Thesen formulierte, die letztlich den Beginn der Reformation markierten. Daher konnte das Phänomen der konfessionellen Spaltung noch nicht im Problemhorizont der italienischen Staatsräsonlehren liegen. Da aber der Verlust der religiösen Einheit sich schnell zu einem ungeheuren politischen Problem und Auslöser von Krieg und Bürgerkrieg auswuchs, mußte die Politische Theorie auf diese neue Konfliktlage reagieren.

Dies galt besonders für Frankreich, das in der zweiten Hälfte des 16. Jhs. "entscheidend durch die Religions- und Bürgerkriege, die konfessionelle Zerrissenheit der Bevölkerung, einen Machtverfall der Monarchie und Momente des sozioökonomischen Einbruchs geprägt" (Schmale, Geschichte, 106) wurde. Im Alten Reich war mit dem ‘Augsburger Religionsfrieden’ von 1555 eine halbwegs tragfähige Konstruktion gefunden worden: politisch-säkularer Friede auf Reichsebene einerseits, konfessionalisierte Territorien andererseits (vgl. Heckel, Krise, 121ff.). In Frankreich aber kam es zu einer Jahrzehnte andauernden Folge von Bürgerkriegen, die die Monarchie zu sprengen drohten. Diese Dauerkrise der politischen Praxis führte dazu, daß Ansätze zu einer theoretischen ‘Neujustierung’ des Verhältnisses von Religion und Politik zuerst in Frankreich formuliert wurden.

Es war die Gruppe der sog. ‘politiques’, die in dieser Situation zwei Forderungen erhob. Zum einen plädierten sie für eine Trennung von Politik und Religion: das Gemeinwesen müsse aus den Kämpfen zwischen den aufgrund ihrer absoluten Wahrheitsansprüche zu einem Kompromiß unfähigen Konfessionen herausgehalten werden. Zweitens waren sie der Meinung, daß das Gemeinwesen als Ordnungs- und Friedensmacht den Bürgern nur das reine Überleben zu sichern habe. Die beiden Forderungen hingen auf engste miteinander zusammen: Wenn das Gemeinwesen von religiöser Legitimation abgekoppelt werden sollte, so mußte es zwangsläufig auch seine traditionelle Rolle aufgeben, die Bürger zu einem moralisch und religiös ‘guten’ Leben anzuhalten, denn um die Inhalte eines solchen stritten ja die Konfessionen gerade. Damit wurde "die Säkularisierung des politischen Denkens in der Neuzeit mit der Herausarbeitung des Begriffs des inneren Friedens auf der Grundlage der konfessionellen Toleranz begonnen" (Schnur, Juristen, 22).

Diese Säkularisation des Politischen war die Voraussetzung für die Entwicklung der Souveränitätslehre, die man zu Recht als ein "major event in the development of European political thought" (Franklin, Sovereignty, 298) bezeichnet hat. Säkularisation bedeutete zwar, daß das konfessionelle Konfliktpotential entschärft wurde, aber gleichzeitig den Verlust religiöser Legitimation. Die von Jean Bodin (1529/30-1596) ausgearbeitete Kategorie der Souveränität kompensierte diesen Verlust und stiftete eine neue Form der rein innerweltlichen Herrschaftslegitimation.

‘Souveräne’ Herrschaft ist einzigartig, absolut, unbefristet und einheitlich. Einzigartig deshalb, weil zum ersten Mal ein wesentlicher qualitativer Unterschied zwischen unterschiedlichen Formen der Herrschaft gemacht wurde. Bekanntermaßen bestand in der Vormoderne kein Herrschaftsmonopol, sondern der politische Handlungsraum umfaßte eine Hierarchie unterschiedlichster ‘Herrschaften’, die sich zwar nach ihrer Machtfülle (Quantität), nicht aber ihrer Qualität nach unterschieden. Die Eigenschaft der Souveränität kommt aber der neuen Lehre gemäß nur noch einer einzigen, nämlich der obersten Herrschaft innerhalb eines Gemeinwesens, in der Regel also der königlichen, zu. Die souveräne Herrschaft ist absolut, d. h. prinzipiell keiner äußeren (z. B. dem Kaiser) oder inneren Herrschaftsinstanz (z.B. den Ständen oder dem Recht) untergeordnet oder verpflichtet, und ferner unbefristet, denn eine Befristung wäre eine Einschränkung ihrer Absolutheit. Sie ist zuletzt einheitlich, denn alle ihre Rechte lassen sich auf ein spezifisches Mittel zurückführen, "eine uneingeschränkte Gesetzgebungskompetenz, die als instrumenteller Kern des Souveränitätsgedankens verstanden werden kann" (Bermbach, Widerstandsrecht, 137).

Die wesentliche Leistung der Souveränitätslehre lag neben der Säkularisierung der Politik darin begründet, daß sie die Vielzahl der königlichen Vorrechte, ‘Regalien’ genannt, zu einem einzigen, einheitlichen Vorrecht - dem Gesetzgebungsmonopol - synthetisierte bzw. sie alle aus diesem einzigen Vorrecht ableitete. Damit war zumindest in der Theorie aus der traditionellen fürstlichen Herrschaft, in der viele einzelne Herrschaftsrechte unterschiedlichster Herkunft unverbunden nebeneinander standen, eine ‘souveräne’, einheitliche Staatsgewalt geworden, die auf dem Fundament des Gesetzgebungsmonopols ruhte.

6.4.3 Patriarchalismus und Gottesgnadentum

von Tim Neu
 

Aus den Herausforderungen der konfessionellen Auseinandersetzungen war im Ausgang des 16. Jhs. das Konzept einer über den Konfessionen stehenden, einheitlichen und unbeschränkten Staatsgewalt hervorgegangen, wie sie die Souveränitätslehre eines Jean Bodin (1529/30-1596) vortrug. Im 17. Jh. verstärkte sich das Wachstum der - nun als souverän gedachten - fürstlichen Herrschaft noch weiter: Die Partikulargewalten wurden immer weiter zurückgedrängt (1614: letzte Einberufung der Generalstände in Frankreich) und die zentralen Exekutionsapparate weiter ausgebaut (2. Hälfte 17. Jh.: Aufbau stehender Heere). Es entstand das, was man trotz aller Kritik als ‘Absolutismus’ ansprechen kann.

Die entstehende proto-staatliche puissance absolue (unbeschränkte Gewalt) entsprang der ‘Souveränität’. Dieses Konzept beinhaltete ja im Kern den Anspruch auf ein uneingeschränktes Gesetzgebungsmonopol zugunsten der höchsten Gewalt im Gemeinwesen. Es stellte sich jedoch die Frage, auf welcher Legitimationsbasis dieser Anspruch aufbaute, wer mit welchen Gründen einen solchen Anspruch anmelden konnte. DASS es immer ‘staatsähnlichere’, souverän-absolute Herrschaft im 17. Jh. gab, daran konnte kein Zweifel bestehen, aber WIE diese gerechtfertigt werden konnte, und WER sie ausüben sollte, darüber wurde heftig gestritten. Gegen die moderne Naturrechtslehre, die politische Macht auf einen Vertrag freier Bürger zurückführte, propagierten vor allem Patriarchalismus und die das Gottesgnadentum verteidigende divine-right-theory die Vorstellung, die puissance souveraine der Fürsten sei naturnotwendig, gottgewollt und damit unabhängig von der Zustimmung der Bürger.

Beide Lehren waren religiös inspiriert und zogen zu ihrer Begründung vor allem die Bibel heran. Ihr gemeinsames Ziel war die theoretische Legitimation der monarchia absoluta, der unbeschränkten Monarchie. Sie unterschieden sich darin, wie sie die Beziehung zwischen väterlicher und politischer Gewalt konzipierten.
Der Patriarchalismus, wie er z.B. von Robert Filmer (1588-1653) vertreten wurde, identifizierte die beiden Gewalten: "Alle politische Autorität war nichts anderes als väterliche Autorität: potestas patria war potestas regia" (Goldie, Absolutismus, 315). Adam als dem ersten Menschen war von Gott die absolute Gewalt nicht nur über die Erde, sondern auch über seine Frau und seine Nachkommen verliehen worden, und diese Gewalt wurde danach ungeschmälert weitergegeben. Da also der König eines Volkes nichts anders als dessen Vater ist, resultiert die Gehorsamspflicht der Untertanen direkt aus dem göttlichen Gebot, den Vater zu ehren. (Vgl. 2. Mose 20, 12).
Die Lehre vom Gottesgnadentum, wie sie z. B. von Jacques Bénigne Bossuet (1627-1704) vertreten wurde, besagt hingegen, "that royal and fatherly power were analogous, and that the fifth commandment enjoined obedience to magistrates as well as to parents." (Sommerville, Absolutism, 358). Hier wird zwar zwischen den beiden Gewalten unterschieden, sie werden jedoch insofern als gleichartig betrachtet, als daß die im fünften Gebot zum Ausdruck kommende Eigenschaft der väterlichen Gewalt, göttlich eingesetzt und damit legitimiert zu sein, auf die politische übertragen wird (Vgl. 2. Mose 20, 12, Römer 13).