6.6 Widerstandstheorien

von Tim Neu
 

Der politische Fundamentalprozeß des schon im Spätmittelalter beginnenden Wachstums der Staatsgewalt kannte auf Dauer nicht nur ‘Gewinner’, wie die monarchischen Zentralgewalten, sondern auch ‘Verlierer’. Standen die Monarchen am Beginn der FNZ nur an der obersten Position einer locker gefügten Hierarchie von Inhabern jeweils autonomer Herrschaft, so mußte sich die einsetzende Akkumulierung und schließlich Monopolisierung von Herrschaftsrechten durch die Fürsten zu Lasten dieser ‘Zwischengewalten’ vollziehen. Welche Institutionen waren nun davon konkret betroffen? Aufgrund des Verlusts ihrer Herrschaftsautonomie zählten langfristig zu den ‘Verlierern’ des Verstaatlichungsprozesses der Adel und die von ihm zumeist dominierten Ständeversammlungen, die Gemeinden städtischer bzw. ländlicher Art (vgl. ländliche Gesellschaft und städtische Gesellschaft), sowie die Kirche und das Justizwesen. Alle diese Institutionen verfügten über eigene Herrschaftsrechte, auch wenn einige von ihnen tatsächlich - wie z.B. Ständeversammlungen und Städte - selbst frühe Produkte der intensivierten Ressourcenabschöpfung durch die Zentralgewalt darstellten. Und da dieses Machtpotential eine gewisse Unabhängigkeit mit sich brachte, "war generalisierter Widerstand gegen das Wachstum der zentralen Staatsgewalt nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, weil das Personal solcher Institutionen andere Interessen als diejenigen der Monarchie verfolgte" (Reinhard, Staatsgewalt, 210).

Trotz gleicher Benennung ist allerdings scharf zu unterscheiden zwischen Formen eines sich auf vorstaatliche Menschenrechte berufenden und gegen eine bestehende Herrschaftsordnung gerichteten Widerstands in der Moderne einerseits und dem spezifisch frühneuzeitlichen Widerstand andererseits, der "auf der Verteidigung spezifischer sozialer und korporativer Privilegien, darunter auch der rechtmäßige Handhabung von Gewalt" (Friedeburg, Widerstandsrecht, 27) gründete, sich damit aus Herrschaftsrechten selbst ableitete und Ordnung gerade zu bewahren suchte. In den Augen der Monarchen erschien somit das als unrechtmäßige Rebellion, was die Widerständigen als legitimen Ausdruck ihrer Herrschaftsrechte verstanden. Dieser Gegensatz der Praxis fand seine Entsprechung natürlich auch in der politischen Theorie, denn parallel zu den aufkommenden Staatsräson- und Souveränitätslehren, die die Position der Zentralgewalten stützten, entfalteten sich gleichermaßen Lehren vom ius resistendi (Widerstandsrecht), die sich für ihre Argumente im wesentlichen auf zwei große Traditionslinien beziehen konnten: die christliche Theologie und das lehnsrechtlich begründete politische Ständetum. Kennzeichnend für Europa ist dabei, daß es nach dem Verlust der religiösen Einheit und dem Beginn des Konfessionellen Zeitalters zu einer konfliktreichen "Verschmelzung von Ständekämpfen und Religionskonflikten" (Heckel, Krise, 108) kam.

Die zentrale Frage lautete in allen Fällen, welche Personen oder Institutionen in welchen Situationen einer tyrannischen Herrschaft legitimerweise Widerstand leisten durften oder mußten. Ebenfalls umstritten blieb, wie weit solcher Widerstand gehen durfte.

6.6.1 Reformatorische Lehren (Luther, Calvin)

von Tim Neu
 

Zu den zentralen Gemeinsamkeiten der reformatorischen Richtungen gehörte das Prinzip sola scriptura, d. h. die Ablehnung der durch die amtskirchliche Autorität geschaffenen Lehr- und Auslegetradition und der alleinige und direkte Bezug auf die Heilige Schrift. Folgerichtig hatte sich auch ein reformatorischer Ansatz in der Frage des Widerstandsrechts des biblischen Texts zu bedienen und an diesem zu bewähren. Nun ist die Heilige Schrift in dieser Hinsicht allerdings alles andere als eindeutig, denn es findet sich ein weites Spektrum vom absoluten Gehorsamsgebot "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet" (Röm. 13,1) bis hin zur sog. ‘petrinischen Klausel’: "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg 5,29). Dieser uneindeutige Textbefund erforderte daher eigenständige Interpretationen und Akzentuierungen, die je nach Reformator unterschiedlich ausfielen. Aufgrund dieser Differenzen in der Konzeption des Verhältnisses von weltlicher und geistlicher Gewalt hat die Forschung lange zu einer "Entgegensetzung von demokratischem Reformiertentum/Calvinismus einerseits und obrigkeitsstaatlichem Luthertum (…) andererseits" (Schilling, Luther, 22) tendiert. Die jüngere Forschung hat jedoch diese Unterscheidung destruiert und verstärkt auf die Gemeinsamkeiten der reformatorischen Ansätze hingewiesen.

Grundlegend für Martin Luther (1483-1546) und auch für Johannes Calvin (1509-1564) ist unter Bezug auf Röm. 13 die strenge Verpflichtung der Untertanen zum Gehorsam gegenüber dem göttlich eingesetzten Amt der weltlichen Obrigkeit. Darüber hinaus sind prinzipiell zwei Fälle zu unterscheiden: 1. Widerstand von Untertanen und 2. Widerstand von Obrigkeiten. Für den kein obrigkeitliches Amt bekleidenden Untertan wird das Gehorsamsgebot nur da aufgehoben, wo "die Grenze der Freiheit des Kirchenwesens durch die weltliche Obrigkeit überschritten [wird]" (Heckel, Widerstand, 10), und als Christ muß der ‘Gemeine Mann’ dann die Ausführung der obrigkeitlichen Befehle verweigern, also ‘passiven’ Widerstand leisten und damit der Forderung von (Röm. 13,1) bis hin zur sog. ‘petrinischen Klausel’: "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg 5,29) Genüge tun. Schwierig wurde es in den Fällen ständischen Widerstands, weil dort alle Parteien - z.B. Kaiser und Reichsstände im Reich - als Inhaber obrigkeitlicher Ämter auftraten. Hier galt, daß Luther und Calvin beide unter bestimmten Bedingungen einen aktiven Widerstand ‘niederer Obrigkeiten’, also ständisch privilegierter Gruppen, gegen tyrannische Herrschaft erlaubten oder sogar einforderten. In der Frage aber, welche ständischen Gruppen konkret als ‘niedere Obrigkeiten’ und damit widerstandsberechtigt gelten sollten, kam es sukzessive zu einer Ausweitung: Luther selbst handhabte die Unterscheidung äußerst restriktiv und legte zuerst nur den Reichsfürsten ein Widerstandsrecht bei, aber der Münsteraner Syndikus Johann von der Wieck hatte schon 1531 "in einer der radikalsten Schriften zur Widerstandsfrage selbst dem einfachen ‘Landvolk’ das Recht zugestanden, sich seiner Obrigkeit zu widersetzen und als Beleg den biblischen Phineas angeführt (4. Mose 25, 1-9), der einen Götzenanbeter mit seiner Lanze durchbohrt hatte" (Friedeburg, Wegscheide, 149). Im Zuge einer ebensolchen Ausweitung der für legitim gehaltenen Mittel des Widerstands entwickelten sich dann in allen drei entstehenden Konfessionen monarchomachische Positionen.

6.6.2 Ständischer Widerstand (Althusius)

von Tim Neu
 

Politische ‘Stände’ waren in der FNZ alle Personen oder Korporationen, die über hergebrachte Partizipationsrechte und -pflichten an der Herrschaft über ein Gemeinwesen verfügten: Dazu gehörten vornehmlich Adelige sowie Korporationen geistlicher und städtischer Art, selten auch bäuerliche Gemeinden. Diese Teilhaberechte gründeten sich auf ein enges Geflecht wechselseitiger Verpflichtungen verschiedenster Herkunft zwischen Fürst und Ständen, wie etwa Herrschafts- und Lehnsverträge, Wahlkapitulationen oder Gewohnheitsrechte, die in ihrer Gesamtheit eine ‘ständische Verfassung’ ausmachten. Da die meisten frühneuzeitlichen Gemeinwesen eine solche Struktur aufwiesen, waren gegen die fürstliche Monopolisierung der Herrschaftsrechte widerständige Stände geradezu notorischer Bestandteil der politischen Praxis. Dieser Widerstand war lange Zeit so unbestritten legitim und weithin verbreitet, daß er keiner gesonderten theoretischen Rechtfertigung bedurfte, allenfalls stellten sich juristisch-praktische Auslegungsfragen. So wurden nach dem Augsburger Reichstag 1530 "Bedenken wegen eines aktiven Widerstands gegen den Kaiser […] durch juristische Argumentationen ausgeräumt" (Rabe, Geschichte, 329).

Wenn die Politische Theorie jedoch den ständischen Widerstand behandelte, so bezog sie sich auf das diesem zugrundeliegende Verhältnis von Fürst und Ständen und behandelte die gesamte heterogene Masse der historisch gewachsenen Verpflichtungen zwischen diesen beiden Polen abstrahierend unter der Kategorie des Vertrages, verstanden als "Interpretationsbegriff für vorhandene und eingelebte konsentische Institutionen und mutualistische Rechtsstrukturen des realen Verfassungslebens" (Kersting, Philosophie, 14). Man unterstellte die Form der gegenseitigen willentlichen Verpflichtung, wie sie in Gestalt von konkreten Herrschaftsverträgen tatsächlich vorkam, allen ständischen Freiheiten, und wenn diese "in die entstehenden Territorien vertragsweise immer schon eingebracht worden waren […], so waren sie […] Bestandteile der Landesverfassung, die nicht einseitig angetastet oder aufgekündigt werden konnte" (Stollberg-Rilinger, Vormünder, 62). Damit war prinzipiell jede Einschränkung ständischer Herrschaftsrechte als unrechtmäßige Vertragsverletzung anzusehen und Widerstand zu rechtfertigen.

Johannes Althusius (1557-1638) hat dann auf der Kategorie der "gegenseitigen vertraglichen Verpflichtung (obligatio mutua contracta)" (Althusius, Politik, 201) aufbauend sogar eine systematische und vollständige Politiktheorie vorgelegt. Entgegen den geläufigen Annahmen der Souveränitätslehre spricht er nicht der Person des Fürsten, sondern allein dem Gemeinwesen die Souveränität zu. Das Gemeinwesen kann allerdings nicht selbst handeln und wird daher repräsentiert vom Kollegium der ‘Ephoren’ - einer Ständeversammlung! Diese übertragen dem Fürsten in vertraglicher Form nur die Verwaltung der Souveränitätsrechte, weswegen Althusius auch nur vom "obersten Magistrat" spricht. Wird der Herrschaftsvertrag von diesem gebrochen, so haben die Ephoren dem Fürsten Widerstand zu leisten und ihn abzusetzen. Damit hat Althusius eine auf den Prinzipien des politischen Ständetums beruhende Alternative zu den monarchischen Lehren wie Patriarchalismus und Gottesgnadentum geschaffen.

6.6.3 Monarchomachen (Hotman, Boucher)

von Tim Neu
 

Der Begriff ‘Monarchomachen’ geht zurück auf den politischen Schriftsteller William Barclay (1546-1608), der ihn zuerst im Titel einer 1600 erschienenen Schrift verwendete. Er verstand diese Wortneuschöpfung abwertend im Sinne von ‘Königsbekämpfer’ und rechnete darunter alle Autoren, die "Bedenken gegen die zur Omnipotenz sich entwickelnde Königsgewalt hatten" (Dennert, Monarchomachen, X) und daher unter bestimmten Voraussetzungen Widerstand gegen diese für gerechtfertigt oder sogar erforderlich hielten. Der damit ursprünglich sehr weite Begriff - unter den sowohl spanische Jesuiten als auch schottische Protestanten fielen - wird heute jedoch zumeist eingeschränkt auf die calvinistischen Autoren des Frankreichs der konfessionellen Bürgerkriege (1562-98), insbesondere Theodor Beza (1519-1605), François Hotman (1524-1590) und die anonym erschienene Schrift Vindicae contra tyrannos. Dies allerdings ist das Ergebnis einer von der älteren Forschung angenommenen ‘demokratischen’ Qualität des Calvinismus, was heute nicht mehr geteilt wird, denn "das protestantische wie das katholische Denken hat seine Monarchisten und seine Monarchomachen (…). Unter entsprechenden Umständen reagieren die politischen Denker der feindlichen Konfessionen nämlich nahezu gleich" (Reinhard, Humanismus, 281): War der König katholisch, so vertraten zumeist die Protestanten monarchomachische und die Katholiken monarchistische Positionen und vice versa.

Die besondere Dynamik, die das monarchomachische Denken besonders im 16. Jh. entfaltete, resultierte aus der Verschränkung von ständischen und konfessionellen Widerstandsbegründungen (vgl. 6.6.1 und 6.6.2), die sich wechselseitig verstärkten - wie sich auch in der politischen Praxis des Reiches der ständische Gegensatz zwischen Kaiser und Reichsständen dadurch vertiefte, das maßgebliche Stände protestantisch wurden, das Reichsoberhaupt hingegen katholisch blieb. Diese Dynamik führte zu immer radikaleren Antworten in der Widerstandsfrage: Es begann mit reformatorischer Gehorsamsverweigerung und nur in Ausnahmefällen gerechtfertigtem Widerstand der höchsten Stände und endete damit, daß bei Jean Boucher "jedem einzelnen Bürger ein positives Recht auf Widerstand, wenn auch mit der gewichtigen Einschränkung, daß die Kirche oder die Stände zuvor zum Widerstand aufgefordert haben müssen" (Vahle, Boucher, 332), erteilt wurde und dieses sogar den Tyrannenmord einschloß!

Abgesehen von diesen radikalen Formen des Widerstands sprachen sich die monarchomachischen Denker jedoch keineswegs für einen grundlegenden Umbau des Gemeinwesens aus: Sie waren nicht gegen die Monarchie als Staatsform, sondern nur gegen die Amtsführung einzelner Monarchen, und auch wenn sie das ‘Volk’ über den Fürsten stellten, so waren sie damit keine Vorläufer eines Rousseau’schen Republikanismus, sondern meinten ganz traditionell ein Gemeinwesen in Form einer ständisch gegliederten und kontrollierten, konfessionell einheitlichen Monarchie. Beide Komponenten spiegelten sich in der großen Bedeutung, die einzelne Monarchomachen der Vorstellung eines doppelten Bundes - zwischen Gott und Gemeinwesen (religiös) bzw. Volk und Herrscher (ständisch) - beimaßen, dessen Bruch erst die radikalen Widerstandsformen legitimierte.