6.7 Modernes Naturrecht
von Tim Neu
Das ‘moderne Naturrecht’ (ius naturae) entstand in der zweiten Hälfte des 17. Jhs. und stellt damit eine der jüngsten Strömung in der politischen Theorie der FNZ dar. Für die meisten der bisher vorgestellten Ansätze war das 16. Jh. ausschlaggebend: In diesem wurden politica christiana und Aristotelismus humanistisch erneuert (vgl. 6.5.1 und 6.7.2), die zentralen Konzepte von ‘Staatsräson’ (Machiavelli) und ‘Souveränität’ (Bodin) formuliert (vgl. 6.4) und später im unverdächtigen Gewand des Tacitismus vorgetragen. Zudem erschienen die neuen naturrechtlichen Ansätze aufgrund ihrer von der ebenfalls neuen, nämlich rationalistischen Philosophie inspirierten Methode extrem ‘avantgardistisch’ und konnten sich daher erst seit dem letzten Viertel des Jhs. in größerem Maße in gelehrten Diskussionen und akademischen Institutionen durchsetzen. Wenn die modernen Naturrechtslehren trotzdem im Titel dieses Kapitels explizit erwähnt werden und einen eigenen Abschnitt erhalten, so liegt dies an ihren - langfristig gesehen - überragenden Auswirkungen, denn sie "revolutionierten das juristische und politische Denken" (Stollberg-Rilinger, Europa, 200) und bildeten danach "die Grundlagenwissenschaft für die Politik, daneben auch für Ethik und Jurisprudenz" (Denzer, Spätaristotelismus, 239).
Entstehung und Erfolg des modernen Naturrechts, wie es von Thomas Hobbes (1588-1679) begründet wurde, lagen vor allem darin begründet, daß es die vielen verschiedenen Einzelfragen, die sich aus den beiden zentralen inhaltlichen Herausforderungen an die politische Theorie - "der Ruf der erschöpfen Religionsparteien nach einem über allem Streit geltenden Recht" und der "Prozeß der Machtkonzentration beim ‘modernen Staat’" (Stolleis, Reichspublizistik, 22f. vgl. 6.3.1 und 6.3.2) - ergaben, erstmals umfassend und in systematischer Form behandelte. Möglich wurde dies durch die Adaption der neuen wissenschaftlichen Methoden, wie sie die rationalistische Philosophie und die modernen Naturwissenschaften etabliert hatten (vgl. 6.3.3), für den Bereich der Politischen Theorie.
Bis zum Aufkommen des modernen Naturrechts war der Spätaristotelismus die herrschende Lehre an den Universitäten. Da sich die naturrechtlichen Ansätze gegen diese Vormachtsstellung erst durchsetzen mußten, wird zuerst der Spätaristotelismus skizziert, gleichsam als ‘Negativfolie’, vor der die Eigenschaften des modernen Naturrechts noch deutlicher werden. Dessen Darstellung ist dann vierfach unterteilt: Am Anfang steht eine allgemeine Charakteristik, die den Kern naturrechtlichen Denkens deutlich macht (6.7.2). Mit den Konzepten ‘Naturzustand’ und ‘Vertrag’ werden dann die beiden wesentlichen argumentativen Grundfiguren näher konturiert (6.7.3), um darauf aufbauend die Positionen zu beschreiben, die das moderne Naturrecht in Bezug auf den Menschen im Naturzustand (6.7.4) und das durch Vertrag gegründete Gemeinwesen (6.7.5) bezieht.
6.7.1 Vorgänger und Konkurrent: Der Spätaristotelismus
von Tim Neu
In den meisten Wissenschaften bildet sich ein Kanon von ‘Klassikern’ heraus, deren Texte dann die Grundlage für Einführungen in die jeweilige Disziplin bilden. Solche Zusammenstellungen sind problematisch, weil sie meist Autoren auswählen, die vom heutigen Stand der Wissenschaft aus als ‘klassisch’ erscheinen. Daß sich deren Status aus Sicht der Zeitgenossen völlig anders darstellen konnte, zeigt die Geschichte der Politischen Theorie. Viele einschlägige Einführungen springen nämlich direkt von Luther und Machiavelli (vgl. 6.4.1 und 6.6.1) zu Hobbes, dem Begründer des modernen Naturrechts, was dann den Eindruck erwecken kann, daß es 1.) in der Zwischenzeit keine wirkungsmächtigen Lehren gegeben und 2.) sich das moderne Naturrecht mit Hobbes sofort durchgesetzt hätte. Dies war jedoch nicht der Fall, denn an den im Reich führenden Universitäten "war der Aristotelismus von der Mitte des 16. bis zum letzten Drittel des 17. Jahrhunderts absolut herrschende Lehre" (Stolleis, Reichspublizistik, 20) in Fragen der politischen Theorie. Und gegen diese Vormachtsstellung konnte sich das moderne Naturrecht erst langsam durchzusetzen, denn seit Melanchthons (1497-1560) Kommentaren zur aristotelischen Schrift Politik wurde diese - vornehmlich, aber nicht ausschließlich in protestantischen Kreisen - zur Grundlage des politiktheoretischen Nachdenkens und so wurden wichtige Impulse, wie z.B. die Souveränitätslehre im Rahmen und mit den Mitteln des aristotelischen Ansatzes diskutiert.
Charakteristisch für den (Spät-)Aristotelismus war, daß sein zentrales Interesse "immer der Qualität der politischen, den öffentlichen Raum organisierenden Herrschaftsordnung, nie der Herrschaftslegitimation als solcher" (Kersting, Philosophie, 4) galt: Herrschaft von Menschen über Menschen erschien als ‘natürliches’, nicht weiter begründungbedürftiges, sondern allenfalls zu verbesserndes Phänomen. Die zweite Grundannahme des politischen Aristotelismus war die Bestimmung des Menschen als animal sociale, als eines Wesens, das von seiner Natur her auf das Leben in der menschlichen Gemeinschaft angelegt sei. Neben dem bloßen Über-Leben, das die Gemeinschaftsformen der Familie und des Dorfes ermöglichen, sei dem Menschen ein sittliches Gut-Leben aufgegeben, das er nur in der staatlichen Gemeinschaft als der höchsten Vergemeinschaftungsform verwirklichen könne - ein teleologisches Denken, wie es in der Wissenschaftlichen Revolution gründlich diskreditiert wurde.
Was bedeutete dies für den Gegenstand der Politischen Theorie, das Gemeinwesen? Dazu muß man beide Grundannahmen zusammendenken und sehen, daß dem Aristoteliker - wie etwa Christoph Besold (1577-1638) - ‘der Mensch’ als immer schon in konkreten, vorstaatlichen Herrschaftsbeziehungen vergemeinschaftet und nach dem Staat bedürftig erschien: Daraus folgt, daß der Staat selbst ‘natürlich’ ist und keine willkürliche menschliche Einrichtung darstellt. Und daher bilden z. B. bei Althusius (1557-1638) auch "die Städte, Provinzen und Landschaften, die sich im Staat geeint haben, nicht die einzelnen Menschen, das Volk des Staates" (Denzer, Spätaristotelismus, 245). Das moderne Naturrecht hat dann mit fast allen diesen Überzeugungen gebrochen und daraus erklärt sich auch das ausgeprägte Konkurrenzverhältnis der beiden Ansätze.
6.7.2 Was ist modernes Naturrecht?
von Tim Neu
Die Idee eines ‘Naturrechts’ (ius naturae) und naturrechtliches Argumentieren sind nicht erst in der FNZ entstanden, sondern können bis in die Antike zurückverfolgt werden. Dennoch ist in der Mitte des 17. Jhs. eine so epochale Veränderung dieses Denkens eingetreten, daß es gerechtfertigt erscheint, die Veröffentlichung des Leviathan von Thomas Hobbes im Jahre 1651 als Einschnitt zu wählen und erst nachher von modernem Naturrecht zu sprechen. Es ist also zuerst zu klären, was man allgemein unter ‘Naturrecht’ versteht und sodann, was die Spezifik des modernen Naturrechts ausmacht.
Was ist Naturrecht?
‘Naturrecht’ meint ein "System rechtlicher Normen, die für alle Menschen (…), auch ohne und im Konfliktfall sogar gegen alle positiven, insbesondere staatlichen Gesetze und Weisungen, überall und jederzeit verbindlich sind" (Ilting, Naturrecht, 245). Der Begriff wird durch die Gegenüberstellung Naturrecht vs. positives Recht erst verständlich: Positives Recht gilt kraft menschlicher ‘Setzung’ (lat. ponere = setzen, legen, stellen), also nur in räumlichen und zeitlichen Grenzen. Das Naturrecht hingegen soll sich gerade dadurch auszeichnen, daß es dieser Partikularität entbehrt und eben überall und immer gilt.
Ein solches, gleichsam über-positives Recht kann verschiedene Funktionen erfüllen. Die wichtigste dürfte darin bestehen, daß man damit einen Beurteilungsmaßstab gewinnt, an dem man das positive Recht messen kann: Naturrecht kann also positives Recht kritisieren (bei Nicht-Übereinstimmung) oder legitimieren (bei Übereinstimmung).
Allerdings bedarf ein solches Naturrecht natürlich der Begründung, denn es ist nicht ohne weiteres einsichtig, welche Normen es enthalten soll und womit deren Geltung begründet werden könnte - und der Rechtspositivismus bestreitet z.B. überhaupt eine solche Möglichkeit. In der Geschichte des Naturrechts kann grob man drei verschiedene Begründungen unterscheiden, deren letzte das moderne Naturrecht darstellt.
- Das teleologische Naturrecht: Dieses zuerst in der heidnischen Antike formulierte Konzept führt Inhalt und Geltung des Naturrechts zurück auf das ‘Sein’ der Natur selbst, daher auch der Name Naturrecht. In der Antike stellte man sich die Natur als Kosmos (gr. kosmos = Schmuck, Ordnung) vor: eine ewige Ordnung, deren Teile ihre eigenen Zwecke in sich tragen (vgl. 6.3.3). → Das Naturrecht gilt, weil die Natur selbst seine Normen enthält.
- Das theonome Naturrecht: Im Spätmittelalter wurde die Begründung des Naturrechts in einem nunmehr christlichen Kontext erheblich verändert. Seine Geltung wurde nicht mehr auf ein ‘Sein’, sondern auf ein ‘Wollen’ gegründet - den Willen Gottes als Schöpfer der Natur. → Das Naturrecht gilt, weil Gott es so will und angeordnet hat.
Was ist modernes Naturrecht?
Das moderne Naturrecht unterscheidet sich nun in zwei wesentlichen Punkten von diesen älteren Varianten, und zwar sowohl in der Begründung selbst, als auch in der wissenschaftlichen Methode, mit der aus dieser Begründung konkrete Normen abgleitet werden.
Begründung: So unterschiedlich die älteren Naturrechtskonzeptionen im Einzelnen auch sein mögen, ihnen "gemeinsam ist die Berufung auf eine vom menschlichen Willen unabhängige Instanz: die Natur- oder Schöpfungsordnung, der Wille Gottes (…). Th. Hobbes setzt dieser Tradition ein Ende und stellt das N[aturrecht] (…) auf ein neues Fundament: den Willen und die Einsicht des Einzelnen." (Kühl, Naturrecht, 585). Das ist die revolutionäre Wendung, die das moderne Naturrecht begründet: → Das Naturrecht gilt, weil jeder einzelne Mensch es will bzw. rational einsehen kann, daß er es wollen muß.
Methode: Der Bruch mit der Tradition, den eine solch völlig neue Begründung bedeutete, wurde dadurch noch vertieft, daß man zur Ausarbeitung dieses Ansatzes die neue Methode anwendete, wie sie in der Wissenschaftlichen Revolution entwickelt worden war. Diese "erkennt nur ein einziges Prinzip an, das die Grundlage des ganzen Rechtssystems bildet" und "leitet durch ein logisches Verfahren alle juristischen Bestimmungen aus dem ersten Grundsatz her und baut ein konsequentes System, dessen Teile sich gegenseitig und folgerichtig bedingen" (Scattola, Naturrecht, 215).
Zusammenfassend läßt sich daher festhalten: "Das [moderne] Naturrecht ist also rational, methodisch stringent, systematisch und säkular." (Denzer, Spätaristotelismus, 239).
- Es ist einerseits rational und säkular (=weltlich), weil es seine Geltung auf die Vernunft (ratio) der Menschen gründet, ohne prinzipiell einer außerweltlichen Komponente zu bedürfen.
(Begründung) - Es ist anderseits methodisch stringent und systematisch, weil es zur Ausarbeitung seines Normensystems ‘more geometrico’, also nach dem neuen Wissenschaftsverständnis des 17. Jh. vorgeht.
(Methode)
Da nun das moderne Naturrecht auf diesen Grundlagen aufruht, hat dies folgende Konsequenzen für den Aufbau einer naturrechtlichen Politischen Theorie insgesamt:
- Politische Herrschaft soll aus der Einsicht und dem Willen der Individuen erst begründet werden, also müssen die Individuen zuerst in einem Zustand ohne Gemeinwesen vorgestellt werden: die Lehre vom Naturzustand (vgl. 6.7.3).
- Wollen die Individuen diesen vorgestellten Naturzustand verlassen, werden sie dies aus wohlverstandenem Eigeninteresse nur in einer Form gegenseitiger Verpflichtung tun: die Lehre vom Vertrag (vgl. 6.7.3)
Auf welchen konkreten obersten Prinzipien in Bezug auf die Verfaßtheit des Menschen (6.7.4) ein solches System jedoch aufgebaut wird, und welche konkreten rechtlich-politischen Normen für das Gemeinwesen (6.7.5) daraus abgeleitet werden, das gestaltet sich bei den einzelnen Naturrechtstheoretikern sehr unterschiedlich.
6.7.3 Argumentative Grundfiguren: Naturzustand, Vertrag
von Tim Neu
Im letzten Abschnitt wurde gezeigt, daß das moderne Naturrecht auf einer wissenschaftlichen Methode beruhte, mittels derer von einem obersten Prinzip ausgehend ein kohärentes System naturrechtlicher Normen entfaltet wird – ‘more geometrico’. Weiterhin wurde deutlich, daß das oberste Prinzip selbst aus dem Wollen der Menschen erschlossen werden sollte: Ein solches allgemeines Prinzip ist jedoch nicht unmittelbar gegeben, denn die tatsächlichen Menschen befinden sich ja schon in einem konkreten Gemeinwesen und da ihr Wollen damit an einem positiv-rechtlichen Zustand orientiert ist, kann daraus ohne weiteres kein allgemeines, eben ‘natürliches’ Prinzip abgeleitet werden. Die Denkoperation, die die Naturrechtler zu leisten hatten, war also eine doppelte und zugleich gegenläufige: Erst muß die Vielfalt der konkreten Situation so weit reduziert werden, daß ein allgemeines Prinzip des menschlichen Wollens sichtbar wird, um dann von diesem Fundament ausgehend durch die Entfaltung des Systems die Vielfalt der konkreten Situation einzuholen. Man nennt dies die ‘resolutiv-kompositorische Methode’: "Komplexe Sachverhalte werden analytisch in ihre ersten Grundelemente aufgelöst; sind diese erkannt und definiert, wird der komplexe Sachverhalt aus seinen Grundelementen rekonstruiert" (Euchner, Staatsphilosophie, 26). Diesen beiden Schritten entsprechen nun zwei zentrale Argumentationsfiguren.
Die resolutive Komponente bildet dabei die Lehre vom Naturzustand "im Sinn des außer- oder vorgesellschaftlichen Zustandes, in dem die vereinzelten Einzelnen nur der mechanischen Naturgesetzlichkeit ihrer Triebe, aber keinem positiven, von politischer Gewalt garantierten Gesetzesbefehl unterworfen sind" (Hofmann, Naturzustand, 654). Dieser wird erzeugt, indem mittels eines Gedankenexperiments das Gemeinwesen und mit ihm alles positive Recht ‘aufgelöst’ (lat. resolvere = auflösen) wird, und seine Ausgestaltung liefert dann die Basis für die Ermittlung des gesuchten obersten Prinzips. Obwohl sich die Vorstellungen bezüglich des Naturzustands, seiner Auswirkungen und des obersten Prinzips innerhalb der naturrechtlichen Tradition erheblich unterschieden (vgl. 6.7.4), so bestand Einigkeit darüber, daß er ursprünglich geprägt ist von Gleichheit und Freiheit: Nicht in ein hierarchisches Gemeinwesen eingebunden verfügen alle Individuen kraft ihres Mensch-Seins über gleiche Rechte, über die sie frei nach ihrem eigenen Ermessen verfügen können.
Aber die Menschen verbleiben nicht im Naturzustand, sondern errichten das Gemeinwesen. Über die Gründe, die zum Verlassen des Naturzustands führen, und die Struktur des an seine Stelle tretenden Gemeinwesens (vgl. 6.7.5) waren die Naturrechtler wiederum verschiedener Meinung, das kompositorische Mittel jedoch stand fest: der Vertrag. Der Kern des Vertrags ist die "Idee der Autoritäts- und Herrschaftslegitimation durch freiwillige Selbstbeschränkung aus eigenem Interesse unter […] einer strikten und institutionell garantierten Wechselseitigkeit" (Kersting, Begründung, 21), d.h. eine jede gesellschaftliche Einrichtung ist dann naturrechtlich gerechtfertigt, wenn sie als auf einem - hypothetischen - Vertrag beruhend rekonstruiert werden kann, den alle Naturzustandsmenschen freiwillig eingehen würden, weil er ihnen nützte. Wie auch der Naturzustand ist der Vertrag allerdings in erster Linie ein Argument in einem Gedankenexperiment und nicht umstandslos zu identifizieren mit konkreten Herrschaftsverträgen.
6.7.4 Der Mensch im Naturzustand (Hobbes, Pufendorf)
von Tim Neu
In den bisherigen Abschnitten sind Theoriebausteine behandelt worden, die das konzeptionelle (vgl. 6.7.2) und argumentative (vgl. 6.7.3) Grundgerüst naturrechtlichen Denkens bildeten und daher in keinem solchen System fehlten. Es stellt sich dann die Frage, was für inhaltliche Positionen die Naturrechtsdenker aus ihrem System ableiteten und innerhalb der Politischen Theorie der FNZ vertraten: Waren sie für souveräne Herrschaft oder ständische ‘Freiheiten’? Für konfessionelle oder säkulare Gemeinwesen? Für absolute Monarchie oder ‘gemischte Verfassung’? Darauf kann man allerdings nicht eindeutig antworten, da "es kaum einen philosophischen oder politischen Standpunkt gegeben hat, der im Laufe der Jahrhunderte nicht auch naturrechtlich begründet worden wäre" (Klippel, Naturrecht, 267). Man kann zwei Gründe für diesen Befund angeben. Zum einen rührt diese Heterogenität daher, daß das moderne Naturrecht in erster Linie eine spezifische Methode politischen Denkens darstellt, und zu welchen Ergebnissen man kommt, hängt eben größtenteils davon ab, welche obersten Prinzipien man als Ausgangspunkte setzt. Und diese obersten Prinzipien werden zweitens eben nicht voraussetzungslos durch die Naturzustandsanalyse ‘gefunden’ - auch wenn die Theoretiker dies behaupteten -, sondern hängen immer zusammen mit der politisch-sozialen Lebenswelt, in der sich der Naturrechtler selbst befindet. Daher wird hier und im nächsten Abschnitt ganz grob das Spektrum naturrechtlicher Positionen hinsichtlich des Menschen im Naturzustand bzw. der vertraglichen Struktur des Gemeinwesens abgesteckt.
Für Thomas Hobbes (1588-1679) ist die Selbsterhaltung das oberste Prinzip, wie für die meisten Naturrechtstheoretiker. Seine Analyse des Naturzustands ergibt aber, daß es sich dabei um einen verheerenden Kriegszustand aller gegen alle handelt, das berühmte bellum omnium contra omes. Auf den ersten Blick erscheint das paradox: Wenn doch alle nur ihre Selbsterhaltung sichern wollen, wie kommt es dann zu einem Zustand, in dem selbst diese gefährdet ist? Hobbes meint, daß die Menschen auch im Naturzustand um knappe Güter konkurrieren müssen. Da es aber kein Gemeinwesen gibt, kein geschütztes Eigentum, faktisch überhaupt keine Pflichten außer der Selbsterhaltung, ist jeder dazu auf seine eigene Macht angewiesen. Akteur A kann also seine Güter nur sichern, wenn er mehr Macht als Akteur B hat. Dies führt natürlich dazu, daß Akteur B sein Machtpotential ebenfalls steigern muß, etc. Es ist also keineswegs eine angeborene Schlechtigkeit des Menschen, sondern "die Interaktionsstruktur des Naturzustandes selbst, die bei je individuell optimierenden Akteuren eine Eskalation wechselseitiger Schädigungen und Übergriffe in Gang setzt, die am Ende die Sicherung des nackten Überlebens zur ultima ratio machen." (Nida-Rümelin, Bellum, 120). Hobbes entwirft eine Konfliktanthropologie: Will der Mensch im Naturzustand überleben, muß er Einzelgänger sein, denn die Anwesenheit anderer führt immer zu einer destruktiven Eskalation. Dieser miserable Zustand kann nur durch die Errichtung des Gemeinwesens überwunden werden.
Obwohl Samuel von Pufendorf (1632-1694) ebenfalls vom Selbsterhaltungstrieb des Menschen ausgeht, liest sich seine Erörterung des Menschen im Naturzustand erheblich anders. Geht es Hobbes primär um die zur Sicherung der Selbsterhaltung notwendige und so konfliktreiche individuelle Machtsteigerung angesichts relativ gleicher Individuen, so betont Pufendorf die kooperative Seite der Selbsterhaltung, denn das "Individuum, auf sich allein gestellt, ist von Natur aus hilflos und bedarf […] des Lebens in der Gemeinschaft; aus der imbecillitas folgt die socialitas als Grundbestimmung des Menschen" (Denzer, Spätaristotelismus, 254). Die natürliche Sozialität des Menschen kompensiert dessen ebenso natürliche Schwäche und ermöglicht so überhaupt erst seine Selbsterhaltung: Daher besteht für Pufendorf schon im Naturzustand die Pflicht, alles zu tun, "was für das Leben in der Gemeinschaft notwendig und nützlich ist" (Pufendorf, Pflicht, 48), er stellt eine Kooperationsanthropologie vor: Im Naturzustand herrscht prinzipiell eine Friedensordnung. Diese ist jedoch unsicher und brüchig, da wegen des Fehlens des staatlichen Gemeinwesens keine allgemeine Pflichterfüllung garantiert und gegebenenfalls erzwungen werden kann.
Wird bei Hobbes also mit dem Gesellschaftsvertrag aus einem natürlichen Kriegs- ein gesellschaftlicher Friedenszustand, so treten bei Pufendorf die Individuen mit dem gleichen Vorgang von einem brüchigen in einen gesicherten Friedenszustand über.
6.7.5 Das vertragliche begründete Gemeinwesen (Hobbes, Pufendorf, Locke)
von Tim Neu
Gilt schon für die Situation des Menschen im Naturzustand, daß die diesbezüglichen Beschreibungen der Naturrechtssysteme erheblich voneinander abwichen, so ist dies in Hinsicht auf Struktur und Aufbau des durch den Gesellschaftsvertrag gegründeten Gemeinwesens noch stärker der Fall. Während nämlich das Naturzustandstheorem eine überwiegend hypothetische Situation konstruierte, die - nach Meinung der Zeitgenossen - allenfalls bei einigen Völkern der Neuen Welt Realität war, hatte der Naturrechtler bei der Schilderung des durch Vertrag gegründeten Gemeinwesens die Geltungsansprüche der gewachsenen politischen Strukturen zu berücksichtigen und nicht zuletzt müssen auch die Erfahrungen beachtet werden, die die Naturrechtler als Bürger und Untertanen mit der politischen Praxis machten. Das Naturrecht als spezifische Methode politischen Denkens vermochte das historisch gewachsene Gemeinwesen zu rationalisieren und daher fungierte ihr Argumentationsgang (Naturzustand-Vertrag-Gemeinwesen) als der "theoretische Generalschlüssel zu allen denkbaren empirischen Verfassungsvarianten" (Stollberg-Rilinger, Vormünder, 116). Dieses Potential soll hier vereinfachend an der gleichwohl zentralen Frage nach der Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrags im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Obrigkeit dargestellt werden.
Bei Thomas Hobbes (1588-1679) - dessen einschneidenste politische Erfahrung die des englischen Bürgerkriegs war - ist die Stärke der Obrigkeit im Sinne der Souveränitätslehre maximiert. Hier nimmt der Gesellschaftsvertrag die Form eines ‘Begünstigungsvertrags’ an: Alle Individuen verzichten auf ihr ‘Recht auf alles’ zugunsten des Souveräns, der damit selbst nicht vertragsbeteiligt ist, und verpflichten sich wechselseitig, dessen Handlungen als ihre eigenen anzusehen. Dieser Souverän, wobei es sich um eine Einzelperson, eine Gruppe oder das ganze Volk handeln kann, verfügt über (fast) absolute Herrschaft gegenüber seinen Untertanen, denn "nachdem sie ihn einmal hergestellt haben, können sie nicht mehr über ihn verfügen, können sie ihm gegenüber keine Rechte geltend machen, denn sie haben alle ihre (natürlichen) Rechte auf ihn übertragen, er kann gegen sie kein Unrecht tun." (Fetscher, Einleitung, XXVf.). Zu beachten ist auch, daß allein der Souverän den Staat repräsentiert, ihm gegenüber gibt es nur eine Masse einzelner Untertanen, aber kein ‘Volk’ im Sinne eines eigenen, einheitlichen Rechtssubjekts. Die souveräne Obrigkeit vereint alle Rechte und kennt keine - zumindest keine von Seiten der Untertanen effektiv einforderbaren - Pflichten.
Dieses Verhältnis verschob sich nun in der deutschen Naturrechtslehre zumindest in der Theorie in Richtung auf die Pflichten der Obrigkeit. So nimmt Samuel von Pufendorf (1632-1694) in Abgrenzung zu Hobbes eine gestufte Errichtung des Gemeinwesens durch zwei Verträge und einen Beschluß an: Im ersten, dem Gesellschaftsvertrag (pactum unionis) verbinden sich die Naturzustandsbewohner untereinander zu einer societas, dem ‘Volk’, als eigenem Rechtssubjekt. Als solches beschließen sie dann über die anzunehmende Regierungsform (decretum circa forma regiminis) und erst im zweiten, dem Unterwerfungsvertrag (pactum subjectionis) überträgt das ‘Volk’ der Obrigkeit die Souveränitätsrechte. Im Vergleich zu Hobbes sind zwei Merkmale dieser Konstruktion von Bedeutung: Erstens existiert das ‘Volk’ als Träger vertraglicher Rechte und Pflichten auch nach dem Unterwerfungsvertrag weiter, und zweitens sind diese Rechte und Pflichten an die Obrigkeit gerichtet, denn hier ist diese eindeutig Vertragspartner. Nun eignet der Stellung der Obrigkeit jedoch eine gewisse Ambivalenz, denn sie ist zwar einerseits vertraglich gebunden, aber durch eben diesen Vertrag auch souverän geworden und damit zwar "als Träger der Souveränität (…) an die Gesetze nicht gebunden, als Vertragspartner (…) aber zur Einhaltung der Verträge und der daraus entstehenden Verpflichtungen angehalten" (Denzer, Moralphilosophie, 196). Bei der Herleitung der Obrigkeit aus dieser Vertragskonstruktion kam es also darauf an, welche Seite man akzentuierte: Das ältere deutsche Naturrecht (Pufendorf, Thomasius, Wolff) betonte die souveränen Rechte und legitimierte die absolute fürstliche Herrschaft, dessen jüngere Variante hob hingegen ab ca. 1780 in einer im weiteren Sinne liberalen Perspektive die vertraglichen Verpflichtungen hervor.
Die liberale Naturrechtslehre - wie sie u.a. von John Locke vertreten wurde - stand insofern im Gegensatz zu Hobbes, als hier der Obrigkeit vor allem konkrete Pflichten auferlegt wurden: Bei Locke hat der Staat vor allem das Eigentum der Individuen zu schützen, das schon im Naturzustand erworben wird und damit dem Zugriff des Gemeinwesens entzogen ist. Auch kennt er nur einen Vertrag, der aber ein reiner Gesellschaftsvertrag ist und das ‘Volk’ konstituiert. Die Obrigkeit ist hingegen weder Vertragsbegünstigter (Hobbes) noch Vertragspartner (Pufendorf), sondern basiert auf einem nicht-vertraglichen Vertrauensverhältnis (trust). Durch dieses "ist der Gesetzgeber Treuhänder des ihm anvertrauten Herrschaftsrechts des Volkes. Damit ist er (…) in eine reine Pflichtposition gerückt." (Kersting, Vertrag, 928f.) Die Souveränitätsrechte werden also gerade nicht übertragen, sondern nur durch die Obrigkeit treuhänderisch ausgeübt und verwaltet. Schwerwiegende Pflichtverletzungen seitens der Obrigkeit - die Locke übrigens in Legislative und Exekutive trennt (vgl. Gewaltenteilung) - zerstören das Vertrauensverhältnis und berechtigen das Volk, eine neue Obrigkeit einzusetzen.