1.2. Bevölkerungsentwicklung und langfristige Konjunkturphasen

1.2.1. Bevölkerungsentwicklung

von Ulrich Pfister und Barbara Stollberg-Rilinger

Die FNZ ist – vor dem Hintergrund weitgehend statischer Technologie – durch ein erhebliches Bevölkerungswachstum geprägt. Es herrschte ein anderes regeneratives Verhalten als in modernen Industriegesellschaften: Höhere Geburten- und Sterberaten; niedrigere Lebenserwartung: nur ca. 60% aller Lebendgeborenen erreichen das zeugungsfähige Alter. 

Um 1500 lebten in Deutschland (in den Grenzen von 1914) ca. neun Millionen, um 1800 ca. 22 Millionen Menschen. Das Bevölkerungswachstum erfolgte nicht linear: Die so genannte Agrarkrise des Spätmittelalters (in Verbindung mit den Pestepidemien des 14. Jh.s) führte zu einem Rückgang der Siedlungen um etwa ein Viertel. In der zweiten Hälfte des 15. Jh.s setzte erneutes Bevölkerungswachstum ein, das bis ca. 1570 die Bevölkerung auf 14,4 Millionen Menschen anwachsen ließ. Danach kam es zu einer Verlangsamung des Wachstums bis 1618 (17,1 Millionen Einwohner). Es folgte ein Einbruch bis 1650 durch die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges, aber auch durch Klimaverschlechterung („Kleine Eiszeit“: nasse und kalte Sommer): Rückgang bis auf zehn Millionen Einwohner, danach stetige Zunahme, die sich seit der Mitte des 18. Jh.s wiederum beschleunigte. (Ch. Pfister, Bevölkerungsgeschichte

1.2.2. Stadt und Land

von Ulrich Pfister und Barbara Stollberg-Rilinger

Der Grad der Verstädterung änderte sich in der FNZ wenig: Im Reich wohnten um 1500 etwa 3% der Bevölkerung in Städten mit mehr als 10.000 Einwohnern, 1800 5,4%. Es ist aber ein Rückgang der kleinstädtischen Bevölkerung zu vermuten. (Schilling, Die Stadt)

In Norditalien, den Niederlanden (inkl. südliche Niederlande/Belgien), England und Frankreich lag der Verstädterungsgrad im 18. Jh. höher (England 1800: 20%).

Großstädte mit mehr als 20.000 Einwohnern sind um 1500 Handels- und Gewerbestädte wie Augsburg, Köln, Lübeck, Magdeburg, Nürnberg und Ulm, um 1750 hingegen Residenz- und Hafenstädte wie Wien, Berlin, Hamburg, Dresden. Daneben gab es zahlreiche Klein- und Kleinststädte, die zwar städtischen Status hatten (Marktrecht, Gericht), deren Bevölkerung aber vorwiegend von der Landwirtschaft lebte (Ackerbürgerstädte).

1.2.3. Wirtschaftliche Wechsellagen

von Ulrich Pfister und Barbara Stollberg-Rilinger

1.2.3.1. Theorie

Wirtschaftliche Wechsellagen werden anhand von Fluktuationen von Produktion und Preisen (sowohl absolut – Inflation und Deflation - als auch relativ zwischen verschiedenen Gütern und Produktionsfaktoren; Preissteigerung) beschrieben. Bis ca. 1850, d.h. bis zur Industrialisierung, sind diese Wechsellagen stark durch die ungleiche Entwicklung von (wachsender) Bevölkerung und (stagnierenden) landwirtschaftlichen Ressourcen geprägt.

Für die FNZ wurden solche Wechsellagen vor allem anhand von Getreidepreisen rekonstruiert, und es wurde eine parallele Entwicklung zum Bevölkerungswachstum festgestellt: Wachsende Bevölkerung und ansteigende Getreidepreise sind parallel zu beobachten (Kriedte, SpätfeudalismusAbel, Agrarkrisen).

Erklärungen des Gesamtkomplexes oder von Teilaspekten bieten das Malthusianische „Principle of Population“, die alternative Sicht von Boserup (Bevölkerungswachstum stimuliert Wachstum der Produktivität) sowie die These, dass Edelmetallzuflüsse in die entstehende Weltwirtschaft Preisfluktuationen beeinflussen. 

1.2.3.2. Säkulare Wechsellagen

(Kriedte, SpätfeudalismusGoldstein, Long cycles, Kap.9)

  1. Aufschwung des „langen 16. Jahrhunderts“ 
    Vielerorts steigen die Preise parallel zum Bevölkerungswachstum seit Ende des 15. Jh.s bis etwa zu Beginn des 17. Jh.s. Bereits Zeitgenossen führten diese Inflation auf Silberimporte aus Amerika zurück, die tatsächlichen Ursachen dürften aber komplexer sein: Die Nachfrage nach Grundnahrungsmitteln steigt, die Profite der marktproduzierenden Bauern und die Grundrenten steigen. Gewerbliche Löhne verlieren hingegen an Kaufkraft (konstante Nachfrage nach Grundnahrungsmitteln, elastische Nachfrage nach gewerblichen Gütern).
  2. „Krise des 17. Jahrhunderts“
    Rückgang bzw. Stagnation von Preisen und Bevölkerung zwischen dem zweiten Viertel des 17. Jh.s bis vielerorts Mitte des 18. Jh.s. 
  3. „Industrielle Revolution“
    Ab der zweiten Hälfte des 18. Jh.s wächst die Bevölkerung und steigen die Preise. Nach der Subsistenzkrise von 1815/17 allgemeiner Preisrückgang, u.a. dank Produktivitätssteigerung durch Industrialisierung und Agrarreformen, gleichzeitig aber auch Unterkonsum (Pauperismus). Wieweit Preisfluktuationen auch realwirtschaftliche Fluktuationen anzeigen, ist ungewiss.
    Der Kreislauf zwischen steigender Bevölkerung, stagnierenden Ressourcen, wiederum abnehmender Bevölkerung usw. wird erstmals durchbrochen.

1.2.4. Malthus

von Ulrich Pfister und Barbara Stollberg-Rilinger

1.2.4.1. Malthusianisches Modell zur Erklärung der Bevölkerungsentwicklung

Robert Malthus (1766-1834) postuliert in „An Essay on the Principle of Population“ (1798) ein abnehmendes Grenzprodukt der Arbeit in der Landwirtschaft und dass die Bevölkerung eine natürliche Tendenz habe, so stark anzuwachsen, dass das Grenzprodukt der Arbeit unter das zur Subsistenz erforderliche Niveau abfalle. Die gewachsene Bevölkerung werde dadurch anfälliger für Subsistenzkrisen (Hungersnöte), Seuchen, etc., die die Bevölkerungszahl wieder reduzieren (sog. „positive checks“). Dieser Zusammenhang sei nur zu durchbrechen, wenn das Bevölkerungswachstum durch moralische Hemmfaktoren gebremst werde (sexuelle Enthaltung und spätes Heiraten als „preventive checks“).

1.2.4.2. Hinweise auf Wirken Malthusianischer Mechanismen

Hinweise auf malthusianische Mechanismen finden sich in der Bewegung relativer Preise: Im „langen 16. Jahrhundert“ und in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s steigen Getreidepreise stärker als die Preise von Fleisch, Butter und Gewerbeerzeugnissen. Am langsamsten steigen die Löhne. Dies führt zu sinkender Kaufkraft und Abnahme der Reallöhne. Andererseits nehmen die Profite von für den Markt produzierenden Bauern sowie Grundrenten zu (Abel, Agrarkrisen). In der „Krise des 17. Jahrhunderts“ zeigen sich gegenläufige Trends. Diese Befunde werden wie folgt interpretiert: Mit zunehmender Bevölkerung werden vermehrt schlechte Böden für den Anbau von Grundnahrungsmittel (Getreide) erschlossen, das Grenzprodukt der Arbeit sinkt. Die Schere zwischen Grenzprodukt der Arbeit und Bevölkerungswachstum erhöht die Nachfrage nach und die relativen Preise von Grundnahrungsmitteln, so dass Profite von Agrarunternehmern steigen. Die zunehmende (klein-)bäuerliche Nachfrage nach Land erhöht die Grundrente und erschwert damit den Zugang unterbäuerlicher Schichten zu eigenem Land. Lohnabhängige Unterschichten (LandarbeiterInnen; städt. Proletariat, z.B. BauarbeiterInnen) konzentrieren ihren Verbrauch auf Grundnahrungsmittel und können sich weniger Fleisch und gewerbliche Produkte leisten (Engelsches Gesetz). Bei gewerblichen Erzeugnissen entsteht zusätzlich ein Überangebot dadurch, dass landarme, lohnabhängige Unterschichten auf einen gewerblichen Nebenerwerb ausweichen.

1.2.4.3. Kritik

Die Produktionsfunktion (Technologie) wird konstant gesetzt, d.h. es wird davon ausgegangen, dass keinerlei technische oder organisatorische Neuerungen entwickelt werden, um insbesondere die landwirtschaftliche Produktion effizienter zu gestalten. Tatsächlich muss aber Bevölkerungswachstum nicht zwingend zu Verarmung führen, sondern kann den Wohlstand fördern, nämlich dann, wenn es produktivitätssteigernde technologische und organisatorische Innovationen stimuliert. (Abweichungen vom malthus. Kreislauf)

Dass die Schwere von Subsistenzkrisen und Seuchen (d.h. die Sterblichkeit) mittelfristig vom Grenzprodukt der Arbeit abhängt, ist nicht nachgewiesen.

Überproportionale Beziehungen zwischen Grenzprodukt der Arbeit und Bevölkerungswachstum sind nicht nachgewiesen (Problem: regionen- und schichtspezifische Familienstrategien).

Ein malthusianisches Modell erklärt allenfalls Fluktuationen der relativen Preise, nicht aber des Preisniveaus.

1.2.5. Abweichungen vom Malthusianischen Kreislauf oder: Not macht erfinderisch

von Ulrich Pfister und Barbara Stollberg-Rilinger

1.2.5.1. Die These von Boserup

Viele technische Innovationen sind zumindest zunächst arbeitsintensiv und verlangen deshalb eine hohe Bevölkerungsdichte (z.B. Agrarmodernisierung mit dem Übergang zu bracheloser Landnutzung und ganzjähriger Stallfütterung). Eine hohe Bevölkerungsdichte fördert zudem wegen niedriger Transportkosten die Arbeitsteilung. Folglich muss ein Bevölkerungswachstum nicht unabänderlich in die Verarmung führen, sondern erleichtert vielmehr die Adaptation technischer und organisatorischer Innovationen, welche die Arbeitsproduktivität erhöhen. (Boserup, Population

1.2.5.2. Diskussion

Die These ist umstritten, da Boserup universalgeschichtlich argumentiert und ein empirischer Nachweis im Detail schwierig ist. In der FNZ scheint aber v.a. eine Vertiefung der Arbeitsteilung dazu beigetragen zu haben, das Realeinkommen einer erheblich wachsenden Bevölkerung (Bevölkerungsentwicklung) über dem Subsistenzniveau zu halten. Die diesbezüglichen Vorgänge (Ansätze zu marktwirtschaftlicher Verflechtung) entwickeln sich zudem im späten 16. und frühen 17. Jh. sowie im späten 18. Jh., d.h. in Phasen starken Bevölkerungsdrucks, besonders dynamisch, was für Boserups These spricht.