1.3. Ansätze zu marktwirtschaftlicher Verflechtung, Frühkapitalismus, Protoindustrie

1.3.1 Marktwirtschaftliche Spezialisierung

von Ulrich Pfister und Barbara Stollberg-Rilinger

1.3.1.1. Außenhandelstheorie

Verschiedene Regionen in Europa unterscheiden sich hinsichtlich der Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, Bodenqualität, natürliche Ressourcen). Spezialisieren sie sich auf die Produktion derjenigen Güter, die sie aufgrund dieser Faktoren am billigsten herstellen können, und erwerben die übrigen auf dem Markt, so sind ihre Faktorproduktivität sowie ihr Konsumniveau höher als ohne Handel (komparativer Vorteil gemäß David Ricardo, 1772-1823). (Dieckheuer, Internationale WirtschaftsbeziehungenKrugman/Obstfeld, International Economics).

Marktwirtschaftliche Spezialisierung entfaltet ihre eigene Dynamik: Die Warenzirkulation verselbständigt sich; der Tauschwert der Waren beginnt die Produktion zu dominieren (Marktwirtschaft). Geldwirtschaft setzt sich durch.

1.3.1.2. Überregionale Spezialisierung und europäische Weltwirtschaft

Europaweit handelt es sich vor allem um eine Differenzierung zwischen hochentwickelten Gewerbelandschaften einerseits (Niederlande, Oberitalien, England) und Agrarlandschaften andererseits (z.B. Nordosteuropa: Export von Getreide und Vieh). 

Um zentrale Handelsplätze (Venedig, Genua, Antwerpen, Sevilla, Amsterdam, London) bilden sich Handelsimperien, die auf andere Kontinente ausgreifen. Die wichtigsten Handelsachsen verschieben sich von Ostsee-Nordsee einerseits (Hanse) über Mittelmeerhandel (von den Niederlanden über Oberdeutschland nach Italien und weiter nach Ostasien) hin zum Atlantikhandel (Plantagenwirtschaft mit Sklaverei, etc.; Unterwerfung der Kolonien unter die Reproduktionserfordernisse der Wirtschaftszentren; Entstehung des Weltwirtschaftssystems). Steigende Effizienz und Sicherheit des Fernhandels (technologische Innovationen) erleichtern großräumige wirtschaftliche Arbeitsteilung.

1.3.1.3. Ansätze zu regionalen Marktwirtschaften

Der Schwerpunkt liegt auf der Spezialisierung entlang von komparativen Vorteilen bzgl. der Verfügbarkeit von Arbeitskräften. Beispiele sind Protoindustrialisierung, weiträumige Arbeitsmigration und arbeitsintensive „cash crops“.

Der Begriff „Protoindustrialisierung“ (Cerman/Ogivie, Proto-Industrialisierung) bezeichnet die Aufnahme exportorientierter gewerblicher Warenproduktion (insbesondere von Textilien) durch die ländliche Bevölkerung in vielen europäischen Regionen, mit einer arbeitsextensiven Landwirtschaft (z.B. Nord- und Westengland, Westfalen, Schlesien). In den ländlichen Gebieten bestehen keine Produktions- und Wettbewerbsbeschränkungen wie im Zunfthandwerk; die Protoindustrialisierung erfolgt als „Kommerzialisierung bäuerlicher Technologien“ oft durch Einwanderer, v.a. Glaubensflüchtlinge. Sie bietet gleichzeitig wachsenden Unterschichten, die von Landknappheit und sinkenden Reallöhnen besonders betroffen sind, eine zusätzliche Einkommensquelle. Die Produktion erfolgt dementsprechend hauptsächlich durch familienwirtschaftlich organisierte Haushalte kleiner Gewerbetreibender, d.h. unter Mitarbeit aller Hausangehöriger, deren Tätigkeit vor allem als subsistenzorientiert (Subsistenzwirtschaft) anzusehen ist. Die Protoindustrialisierung ist gleichzeitig eng verbunden mit der Entstehung von Frühkapitalismus (Frühkapitalismus) und Verlagswesen.

Weiträumige Arbeitsmigration (Lucassen, Migrant labor) findet v.a. von landwirtschaftlich marginalen Bergzonen in Gebiete mit arbeitsintensiver Landwirtschaft und hohem Verstädterungsgrad (z.B. Hollandgängerei in den westfälischen Mittelgebirgen) statt.

Soweit ein regionaler Markt für arbeitsintensive „cash crops“ (kommerzialisierbare und kommerzialisierte Agrargüter) besteht, nimmt die Produktion solcher Güter (insbesondere Wein, Obst, Flachs, Milchprodukte, Farbstoff, etc.) in der FNZ zu. Die Spezialisierung der einen bedingt dabei wiederum die Spezialisierung der anderen: Produzieren z.B. die Bauern einmal vorrangig für den Handel, so werden sie umgekehrt selbst wieder zu Abnehmern anderer Produkte, die sie nicht mehr im benötigten Umfang herstellen können.

1.3.2. Frühkapitalismus

von Ulrich Pfister und Barbara Stollberg-Rilinger

In Textilgewerbe, Metallverarbeitung und Bergbau kommt seit dem 16. Jh. verstärkt handelskapitalistisches Wirtschaften auf. 

Das im Fernhandel mit gewerblichen Waren akkumulierte Kapital fließt zurück in die gewerbliche Produktion und dynamisiert sie, d.h. Kapitaleigner, nicht die Produzenten selbst steuern die gewerbliche Produktion und vermarkten die Produkte. 

Entweder Kaufleute oder auch reiche Handwerker selbst kaufen die gesamte Zunftproduktion auf und vermarkten sie auf eigene Rechnung, oder  „Verleger“ stellen Rohstoffe und Produktionsmittel zur Verfügung, nehmen die fertigen Waren ab und vertreiben sie. Folge: Gewerbe geraten in Abhängigkeit, wenn auch weitgehend Familienwirtschaft erhalten bleibt. 

Hemmungen durch städtische Zünfte, denen an der Aufrechterhaltung der selbstständigen Haushalte, Schutz vor Konkurrenz, standesgemäßem Auskommen, etc. gelegen ist, werden durchbrochen, indem die Verlagsgewerbe seit dem 17. Jh. zunehmend auf das Land ausweichen (Protoindustrie). 

Erleichtert wird das kapitalistische Wirtschaften durch Zusammenschluss zu Handelsgesellschaften, kreditwirtschaftliche Techniken wie Wechselgeschäftdoppelte Buchführung, regelmäßige Inventuren etc. 

Von vornherein nicht zünftig und familienwirtschaftlich organisiert sind solche Gewerbe, die ein hohes technisches Organisationsniveau und hohen Kapitaleinsatz erfordern und für überregionale Märkte produzieren, wie v.a. der Bergbau. Der Bergbau nimmt eine Schlüsselstellung ein, die sich in der Zusammenarbeit von Unternehmern mit Landesherren, die im Besitz des Bergregals sind und Metalle für Münzproduktion und für Waffen brauchen, ergibt. Vorangetrieben wird diese frühkapitalistische Entwicklung insgesamt durch das Geldbedürfnis der Monarchen für Kriegführung und Staatsausbau; Unternehmer treten als ihre Geldgeber auf.