1.1. Medienrevolutionen
Die Art und Weise, wie in einer Gesellschaft Informationen produziert, aufbewahrt und weitergegeben werden, hat weitreichende Folgen für deren wirtschaftliche, soziale und politische Strukturen. Man kann drei fundamentale „Medienrevolutionen“ unterscheiden:
- von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit,
- von skriptographischen zu typographischen Medien,
- von diesen zu elektronischen Medien.
Schrift ermöglicht die Lösung der Kommunikation von persönlicher Anwesenheit („face to face“) und macht Wissensspeicherung vom individuellen Gedächtnis unabhängig. Typographische Medien (Buchdruck) potenzieren die Möglichkeiten und Wirkungen der Schrift. Erst durch sie werden schriftliche Kommunikationsformen den mündlichen eindeutig bevorzugt (Giesecke, Buchdruck).
1.1.1. Das Mittelalter als semi-orale Kultur
Im Mittelalter ist Schriftlichkeit lange Zeit von Spezialisten (Ordensklerus) monopolisiert. Kommunikation ist vorwiegend unmittelbare Interaktion unter Anwesenden; Herrschaft ist auf persönliche Präsenz angewiesen; Verbindlichkeit stiften rituell-demonstrative Formen des Handelns. Das überlieferte antike und christliche Wissen wird in Klöstern und Domschulen in handgeschriebenen Codices aufbewahrt und durch Abschreiben, Kompilieren, Kommentieren und Glossieren fortgebildet. Kein Manuskript ist mit dem anderen völlig identisch. Seit dem 12. Jh. werden Bücher auch von Laien-Schreibern in Schreibwerkstätten gegen Bezahlung, z.T. auch auf Bestellung kopiert. Der Bedarf an Schriftlichkeit wächst vor allem in der Kirche, am Fürstenhof, an der Universität, in der Stadt und im Handel.
1.1.2. Die Erfindung des typographischen Verfahrens
Der Goldschmied Johannes Gutenberg gründet nach einem Experimentierstadium 1448 in Mainz zusammen mit dem Kapitalgeber Johann Fust und dem Schreibmeister Peter Schöffer die erste Druckwerkstatt. Papier gab es bereits seit dem 13. Jh., der Druck in festen Blöcken war aus China bekannt. Neu ist die Erfindung einzelner beweglicher Bleilettern und die Kombination der Herstellungsschritte Letternguss, Satz und Druck. Das erstes gedruckte Werk ist eine Bibel von 1455/56. Die neue Technologie breitet sich rasch entlang des Rheins, in oberdeutschen, oberitalienischen, niederländischen Handelszentren und in Universitätsstädten aus. Um 1500 existieren in Europa rund 250 Druckorte mit rund 1100 Druckereien.
- Bildquellen: Druckerwerkstätten
Früheste Darstellung einer Druckerwerkstatt, 1499
Ein Druckmeister in seiner Werkstatt, 1608
Zwischen 1450 und 1500 entstehen ungefähr so viele Buchexemplare wie in den 1000 Jahren zuvor. Die „erste frühindustrielle Massenproduktion vollkommen gleichartiger Güter“ (Burkhardt, Reformationsjahrhundert) erfolgt in kapitalintensiven Manufakturbetrieben für den überregionalen Markt, hinzu kommt der Aufbau komplexer Vertriebsnetze. Gedruckt werden vor allem religiöse Schriften (Bibeln, Messbücher, Erbauungsschriften, Ablassbriefe etc.), antike Texte, aber auch profane Ratgeber, Hand- und Lehrbücher, Kalender usw.
Religiöse Erbauungsschriften: Schmerzensmann und Mater Dolorosa
Moraldidaxe: Satire auf die Weiberherrschaft
Ratgeberliteratur: Tischzucht
„Neue Zeitungen“ von spektakulären Ereignissen: Kriegsbericht, Schiffsblockade der Schelde von 1585.
„Neue Zeitungen“ von spektakulären Ereignissen: Wunderbericht, eine gotteslästerliche Wirtin wird vom Teufel geholt.
1.1.3. Die Rolle der reformatorischen Bewegung für den Buchdruck
(jl) Die reformatorische Bewegung veränderte den Buchdruck tiefgreifend sowohl in seinen quantitativen Dimensionen wie in seinen qualitativen Erscheinungsformen.
Die Reformation war ein Medienereignis, in dem theologie- und kommunikationsgeschichtlicher Einschnitt zusammenfielen und sich gegenseitig bedingten. Der Buchdruck, besonders in Form von Flugschrift und Flugblatt, verhalf der Reformation zum Durchbruch - und umgekehrt: Vor der Reformation befand sich die bereits entwickelte Spitzentechnologie des Buchdrucks in einer Existenzkrise - es gab nur geringen Bedarf. Mit der Reformation findet das neue Medium sein Ereignis (Burkhardt, Reformationsjahrhundert).
Der Buchdruck bildete das wichtigste Forum der maßgeblich durch die Reformation neu entstandenen `Öffentlichkeit` in Deutschland. Als Kommunikationsmittel und Träger von Öffentlichkeit korrespondierte er mit elementaren theologischen Grundvorstellungen der Reformation. Die frühreformatorische Öffentlichkeitskultur war daher nicht nur das Umfeld der reformatorischen Botschaft, sondern deren theologisch untermauerte Zielvorgabe: Durch die reformatorische Hervorhebung des Schriftprinzips wechselte das heilsvermittelnde Medium vom geistlichen Stand auf den Buchdruck, da letzterer gewährleistete, die Bibel jedem ohne Verfälschung durch "Menschenwerk" zugänglich zu machen. Das Theologumenon "sola scriptura" bedingte also eine Art theologischer "Medientheorie": Der Buchdruck als technische Voraussetzung der Vervielfältigung der Offenbarung schuf eine Öffentlichkeit der Heiligen Schrift, die - vorbei am vermeintlich korrumpierten Stand der Geistlichen - nunmehr direkt die Menschen erreichen konnte und das Priestertum aller Gläubigen erst ermöglichte.
Das Priestertum aller Gläubigen, die theologische Aufwertung der Laienkultur, kam im Buchdruck in mehrfacher Hinsicht genuin zur Wirkung (Moeller, Flugschriften 243):
- auch Laien publizierten als Autoren ihre theologischen Standpunkte;
- die Laien wurden als Leser angesprochen und für urteilsfähig erklärt;
- der Laie wurde in literarischen Figuren wie z.B. dem frommen Bauern `Karsthans` als positiv konnotierter Gegenpart zum verdorbenen Pfaffen stilisiert.
Die durch den Buchdruck realisierte, zunehmend ständisch und sozial entgrenzte Öffentlichkeit der Reformation ist also nicht nur Zustand, sondern Programm: "`Öffentlichkeit` in diesem Sinne ist daher nicht nur ein moderner Analysebegriff, sondern eine Forderung der Zeitgenossen selbst." (Hamm, Medienereignis 166)
Die theologisch motivierte Öffentlichkeitsforderung der Zeitgenossen macht evident, wie eng die Durchsetzung von Reformation und Buchdruck aneinander gekoppelt war. Dieses Wechselverhältnis bewirkte einen grundlegenden Funktionswandel der Literatur im frühen 16. Jahrhundert (Moeller, Flugschriften 243):
- Buchproduktion: Das Buch wurde ein lukratives Handelsgut, und die Buchproduktion erreichte Massencharakter.
- Bücher: Die Bücher bezogen sich auf aktuelle Themen und kommentierten Zeitgeschichte. Es wurde nicht mehr nur Wissen, sondern vor allem Meinung transportiert.
- Autoren: Die Autoren konnten in gestiegenem Maße Berühmtheit erlangen und nahmen in neuer Weise Einfluss auf die Meinungsbildung. Da sie sich bei Gehalt und Gestalt der Themen auch an der Nachfrage orientierten, nahmen die Rezipienten auch Einfluss auf den Autor.
- Sprache: Um möglichst breite Leserkreise anzusprechen, wurde die Sprache den Bedürfnissen des Volkes angepasst: Zum einen schrieben viele Autoren statt in lateinischer nun in deutscher Sprache; zum anderen veränderte sich die deutsche Literatursprache durch die Erweiterung ihrer sozialen Basis: die gesprochene Sprache, das Alltagsdeutsch wurde literaturfähig.
- Lesen: Das Lesen gewann Existenzbedeutung: Vor dem Hintergrund der reformatorischen Vorstellung der Unvertretbarkeit des Glaubens und des Priestertum aller Gläubigen sollte jeder Christ die Bibel und zum Heil förderliche Schriften lesen können.