Quelle: Chrétien Guillaume de Lamoignon de Malesherbes, Das Richteramt der Öffentlichkeit, 1775

Lamoignon de Malesherbes, ein typischer Vertreter des aufgeklärten hohen Beamtentums, führte die staatliche Aufsicht über das gesamte Druckwesen in Frankreich, stand aber selbst dem von ihm kontrollierten Aufklärerzirkel sehr wohlwollend gegenüber. In diesem Auszug aus seiner im Februar 1775 vor der Académie française gehaltenen Rede bringt er den zeitgenössischen Begriff von Öffentlichkeit auf den Punkt.

„Die Öffentlichkeit bringt Gegenständen, die früher zu den gleichgültigsten zählten, ein begieriges Interesse entgegen. So hat sich ein Gericht gebildet – unabhängig von allen Gewalten, und doch von allen Gewalten geachtet-, das alle Talente würdigt und über alle Menschen von Verdienst sein Urteil abgibt. Und in einem aufgeklärten Jahrhundert, einem Jahrhundert, da jeder Bürger vermittels des Buchdrucks zur gesamten Nation sprechen kann, sind diejenigen, die die Fähigkeit besitzen, die Menschen zu belehren, und die Gabe, sie zu bewegen – sind also, mit einem Wort: die Gelehrten inmitten der weit verstreuten Öffentlichkeit, was die Redner Roms und Athens inmitten der versammelten Öffentlichkeit waren. Diese Wahrheit, die ich der Versammlung der Gelehrten darlege, ist schon Magistratspersonen vorgetragen worden, und keiner hat es abgelehnt, dieses Gericht, das die Öffentlichkeit bildet, als obersten Richter über alle Richter der Erde anzuerkennen. [...]

Heute sind die Geheimnisse aller Künste enthüllt oder werden es sein. Man hat gefunden, wonach man in den vergangenen Jahrhunderten vergeblich gesucht hätte: Künstler, die fähig sind, sie niederzuschreiben, und Leser, die fähig sind, sie zu begreifen. [...]

Wir wollen gar zu behaupten wagen, daß eine glückliche Begeisterung alle Geister erfaßt hat und daß die Zeit gekommen ist, da jeder Mensch, der fähig ist zu denken, und vor allem zu schreiben, sich verpflichtete fühlt, sein Sinnen und Denken dem öffentlichen Wohl zu widmen.“

  • nach: Source d’Histoire de la France moderne. XVIe, XVIIe, XVIIIe, siècle. Sous la dir. de Jean-François Solnon. Paris : Larousse 1994, 801 – Übers. von Karl Meier.