2.3. Vom geschlossenen Wissen zum unendlich Erforschbaren
2.3.1. Innovation durch Verbindung von gelehrtem Wissen und technischer Praxis
Innovativ ist experimentell-empirisches, praxisbezogenes Forschen, das sich ergibt aus der neuen Verbindung des traditionellen gelehrten Wissens („scientia“: v.a. Mathematik, Astronomie) mit den artes mechanicae, den handwerklich-technischen, „unfreien“, bisher sozial geringgeschätzten Künsten. Das setzt eine Wechselwirkung zwischen technischer und wissenschaftlicher Entwicklung in Gang: Neue Geräte (Fernrohr, Mikroskop, nautische Instrumente etc.) ermöglichen präzisere Beobachtung und Experimente (gezielte „Fragen an die Natur“ mittels künstlich erzeugter Effekte); die mathematische Beschreibung von physikalischen Phänomenen beeinflusst umgekehrt wiederum die technische Entwicklung.
2.3.2. Überzeugung von der Einheit und Gesetzmäßigkeit der Natur
Das setzt die Überzeugung von der Einheit und Gesetzmäßigkeit der Natur voraus: Während im traditionellen theologisch geprägten Weltbild die diesseitige, irdische Welt der Menschen als defekt, unvollkommen, chaotisch und vergänglich grundsätzlich von der vollkommenen, unveränderlichen, jenseitigen Welt des Himmels und der Gestirne unterschieden wurde, setzt die Neue Wissenschaft voraus, dass die gesamte Natur einheitlichen Gesetzmäßigkeiten folgt, so dass von den Bewegungen irdischer Körper auf die des Himmels und umgekehrt geschlossen werden kann. Die physische Natur, Himmel und Erde, erscheinen gleichermaßen gesetzmäßig geordnet und daher exakter, mathematisch formulierbarer Erkenntnis zugänglich. Astronomie und Physik werden zu neuen Leitwissenschaften.
2.3.3. Mechanisierung des Weltbildes
Das handwerkliche Herstellen liefert nun das Modell für die Erkennbarkeit der Welt: Der Mensch versteht sie, weil sie so beschaffen ist wie das, was er selbst herstellen kann. Modell für die Welt wird die Maschine, insbesondere das mechanische Uhrwerk. Während die traditionelle aristotelische Naturphilosophie die Welt nach einer Analogie beseelter Wesen verstanden hatte, wird sie nun nach Analogie eines kausal-mechanischen Bewegungsablaufs verstanden. (Aristotelische Teleologie: Körper bewegen sich so, wie es ihre natürliche Veranlagung verlangt; der Stein fällt, weil er dem Mittelpunkt der Erde zustrebt; Wasser steigt in einer Pumpe hoch, weil die Natur einen horror vacui hat, usw. Dies ist vereinbar mit einem magisch-animistischen Weltverständnis, wonach alle möglichen Phänomene auf absichtliches Wirken, etwa von Dämonen, okkulten Kräften etc. zurückgeführt werden.) Die prinzipielle Gleichsetzung von Naturphänomen und Artefakt erlaubt erst experimentelle Forschung: d.h. natürliche Effekte künstlich zu simulieren und von dort auf natürliche Gesetzmäßigkeiten zu schließen. – Nach streng mechanistischer Auffassung (die sich nie vollständig durchsetzt und im 18.Jh. wieder auf dem Rückzug ist) sind geistige und materielle Welt prinzipiell getrennt (so v.a. Descartes, Hobbes). Alle Naturphänomene werden letztlich auf Materie und Bewegung reduziert; alles andere wird von der neuen wissenschaftlichen Methode ausgeschlossen. – Gott wird als vollkommener Uhrmacher verstanden, der keine Wunder nötig hat: Die Welt bewegt sich nach den unveränderlichen Gesetzen der Mathematik von selbst gemäß ihrer Zusammensetzung und der ihr einmal mitgeteilten Bewegung; deshalb ist Gewissheit ihrer Erkenntnis möglich. Die mathematische Beschreibbarkeit der Phänomene geht aber teilweise auch mit dem Verzicht auf eine ursächliche Erklärung einher (so Isaac Newton, Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie, 1687; Bsp. Gravitationstheorie).
2.3.4. Emanzipation von der Theologie und Entfernung vom Alltagswissen
Die Entdeckung der „Neuen Welt“, des heliozentrischen Systems, geologische Entdeckungen und vieles andere lassen sich nicht mehr mit dem antiken Wissen und der biblischen Überlieferung vereinbaren. Das „Buch der Natur“ (das von Gott in der Sprache der Mathematik verfasst ist und vom Menschen aufgrund seines Verstandes gelesen werden kann) läuft der Hl. Schrift und den antiken Autoritäten als Erkenntnisquelle den Rang ab. Im Konflikt mit dem theologischen Wahrheitsanspruch der Kirche (kopernikanisches vs. ptolemäisches Weltbild) setzt sich der Autonomieanspruch der Wissenschaft durch, nicht zuletzt, weil sie von den Fürsten aus Prestige- wie aus Nützlichkeitsgründen gefördert wird.
Die Neue Wissenschaft tritt immer mehr in Gegensatz zur Alltagswahrnehmung (z.B.: die Sonne geht nicht auf!). Die Weltbilder der Gelehrten und Ungelehrten entwickeln sich immer weiter auseinander; Wissenschaft und Magie werden zu Gegensätzen. Das natürliche Universum erscheint nicht länger räumlich geschlossen und endlich, der Mensch nicht länger in seinem Zentrum. Die Gegenstände des Wissens werden ebenso entgrenzt wie die Art seiner Aneignung. An die Stelle eines geschlossenen Kosmos tritt das unendliche Universum; an die Stelle des sicheren Schatzes der Autoritäten tritt das unbegrenzbare Feld des zu Erforschenden. Ein grenzenloser Machbarkeitsoptimismus zeichnet sich ab.