3. Die Epoche in der Geschichtswissenschaft
Das Zäsurbewusstsein der Zeitgenossen ist nur ein Anhaltspunkt unter anderen für die Periodisierungsbemühungen der Historiker. Aus der zeitlichen Distanz lassen sich strukturelle Entwicklungen rekonstruieren, die die Zeitgenossen selbst nicht überschauten oder zu deren Beurteilung ihnen die Kategorien fehlten. Die einzelnen Ereignisse, die die Zeitgenossen als tiefgreifenden Umsturz aller Verhältnisse wahrnahmen, mögen aus zeitlicher Distanz nur als „Wellengekräusel“ auf der Oberfläche eines tiefen, kaum bewegten Ozeans erscheinen, und umgekehrt können sich Ereignisse, die von den Zeitgenossen kaum wahrgenommen wurden, erst aus zeitlicher Distanz in ihrer ganzen Folgenträchtigkeit zeigen. Allerdings bestehen auch unter den Historikern große Differenzen, was die Periodisierung betrifft. Unterschiedlichen Phänomenen wird unterschiedliche Bedeutung beigemessen, je nachdem welches Bild man von der Gesamtentwicklung hat und welche Perspektive man einnimmt. Ein Kunsthistoriker nimmt etwa das 15. Jh. als Hochblüte der Renaissance wahr, ein protestantischer Kirchenhistoriker hingegen als Krisen- und Verfallszeit.
3.1. Grundlegende Theorien
In einer Reihe sehr grundlegender und für die Geschichtswissenschaft einflussreicher Theorien nimmt die „Frühe Neuzeit“ als Großepoche eine zentrale Stellung ein. Diese Theorien beschreiben die historische Entwicklung (in je verschiedener Weise) als einen Prozess, der aufgrund bestimmter ineinandergreifender Faktoren auf unumkehrbare Weise in eine bestimmte Richtung verlaufen ist, ohne dass dies das Resultat eines vereinten, planmäßigen, auf dieses Ziel gerichteten Handelns gewesen wäre. Sie kennzeichnen den Prozess hin zur „Moderne“ zum Beispiel als Rationalisierung von Herrschaft und „Entzauberung der Welt“ (Max Weber), als soziale Differenzierung und gesellschaftliche Komplexitätssteigerung (Niklas Luhmann), als zunehmende (nicht zuletzt körperliche) Disziplinierung der Einzelnen (Gerhard Oestreich, Michel Foucault), als „Zivilisationsprozess“ mit wachsenden Peinlichkeitsschwellen und der Verwandlung von Fremd- in Selbstzwänge (Norbert Elias), als von der Elite ausgehende „Akkulturation“ auf Kosten der Kultur des „einfachen Volkes“ usw.
3.2. Faktoren des Wandels
Bestimmte grundlegende, einander wechselseitig verstärkende Entwicklungen spielen in allen diesen Theorien eine Rolle. Dazu zählen vor allem die zunehmende marktwirtschaftliche Verflechtung, die Intensivierung der obrigkeitlichen Regelungstätigkeit, die zunehmende Bedeutung von Schriftlichkeit (mit erheblichen Auswirkungen auf die Quellenlage, die quantitativ und qualitativ eine wesentlich andere ist als für das Mittelalter), die Professionalisierung von Verwaltung und Rechtsprechung, die Herausbildung gegeneinander abgegrenzter Konfessionskirchen etc. Viele für die Frühe Neuzeit prägende Strukturen lassen sich allerdings weit ins Mittelalter zurückverfolgen, so zum Beispiel die Herausbildung der ständischen Verfassung in den Territorien, die wachsende Bedeutung der Geldwirtschaft für die Herrschaftsausübung und Kriegführung usw. Einiges spricht beispielsweise dafür, die Zeit von der Mitte des 14. Jh. (demographischer Einbruch durch die große Pest) bis zur Mitte des 17. Jh.s (Ende des Dreißigjährigen Krieges, völkerrechtliche Neuordnung Europas) als eine Epoche zu betrachten. Ebenso wie die Grenze zum späten Mittelalter lässt sich auch die Zäsur der Französischen Revolution relativieren, wenn man ins Auge fasst, welche langfristigen Entwicklungen ihr vorausgegangen sind und ihr Ende überdauert haben, ja womöglich von den Revolutionsereignissen eher vorübergehend aufgehalten als beschleunigt worden sind (z.B. Bevölkerungswachstum, Protoindustrialisierung, Intensivierung der Staatsgewalt etc.). Sinnvoll ist es auch, die Zeit von etwa 1750 bis etwa 1850 als ein „Zeitalter der Revolutionen“ (R.R. Palmer), eine breite „Sattelzeit“ (Koselleck) zwischen Vormoderne und Moderne zu betrachten.
3.3. „Musterbuch der Moderne“?
Die Frühe Neuzeit ist einerseits als „Musterbuch der Moderne“ bezeichnet worden (W. Schulze) – in dem Sinne, dass sich hier die Strukturen entwickelt haben, die unsere heutige Welt noch immer prägen. Andererseits ist unübersehbar, dass uns inzwischen wiederum tiefgreifende Umbrüche von der Epoche des 19./20 Jh.s trennen (elektronische Medienrevolution, Untergang der staatssozialistischen Regimes, Globalisierung etc.) und der historische Wandel sich erneut beschleunigt hat. Die Frühe Neuzeit wird daher zunehmend fremder und exotischer wahrgenommen und kann geradezu wie eine fremde Kultur mit ethnologischem Blick betrachtet werden. Der Prozess der Moderne erscheint inzwischen in vieler Hinsicht nicht mehr als lineare Entwicklung auf ein bestimmtes Ziel hin. So kann beispielsweise der moderne souveräne, nationale Staat nicht mehr als das non plus ultra der historischen Entwicklung gelten, sondern eher als Übergangsphänomen. Damit erscheinen gerade vormoderne, vor-staatliche Phänomene wiederum in einem neuen Licht. Dabei zeigt sich wiederum: Die Wahrnehmung von historischen Epochengrenzen verschiebt sich mit der Perspektive des Historikers und ist nicht quasi „objektiv“ festlegbar.