1.1. Strukturelle Hintergründe der reformatorischen Bewegung

1.1.1. Kirchlicher Fiskalismus

Die Papstkirche war aus den Kämpfen der Konzilsära und den Vernichtungsfeldzügen gegen Ketzerbewegungen siegreich hervorgegangen. Der Kirchenstaat des Papstes ging auf dem Weg der modernen Staatsbildung voran: bürokratischer Zentralismus, aufwendige Hofhaltung (Renaissancepäpste!), moderne Kriegführung, enges Klientelnetz etc. erforderten erhebliche Geldmittel. Die Papstkirche bediente sich zur Aufbringung dieser Gelder ihrer Position als universale und monopolistische Heilsanstalt und ihrer europaweiten Herrschaftsrechte (Gerichtsbarkeit über Kleriker und ihre Angehörigen und über alle ins Kirchenrecht einschlagenden Gegenstände wie Ehe, Schuldrecht etc.). Kurie und Bischöfe verdienten z.B. an DispensenPfründen, Gnadenerweisen und insbesondere Ablässen. Die Folgen des päpstlichen und bischöflichen Fiskalismus waren erhebliche Missstände in der Seelsorgepraxis: Abwesenheit der Pfründeninhaber, hohe Gebühren für geistliche Leistungen etc. Dagegen richteten sich schon im 15. Jh. die Bemühungen der Landesherren zur stärkeren Kontrolle der Landeskirche (Zurückdrängung der geistlichen Gerichtsbarkeit etc.).

1.1.2. Laienbildung, Laienfrömmigkeit, Antiklerikalismus, Heilsangst

Mit zunehmender Bedeutung der Schriftlichkeit in der Praxis von Verwaltung und Handel in den Städten und an den Höfen wuchs die Schreib- und Lesefähigkeit der Laien und steigerte deren Selbstbewusstsein gegenüber dem Klerus, der im Mittelalter das Bildungsmonopol besessen hatte. Neue und intensivere Formen der Laienfrömmigkeit bildeten sich heraus (Bruderschaftswesen, Wallfahrten, Heiligenverehrung etc.). Die wirtschaftliche Potenz des städtischen Bürgertums wurde zu religiösen Aufwendungen und Stiftungen genutzt (Ablässe, Privatmessen, Reliquien, Altäre etc.): Man ließ sich das Seelenheil etwas kosten und steigerte damit zugleich sein soziales Prestige. Der päpstliche Fiskalismus und die Bedürfnisse der Laien nach quantifizierbarem Anteil an der ewigen Seligkeit trafen zusammen und förderten sich gegenseitig. 

Die negativen Auswirkungen des wirtschaftlichen Wandels in den verschiedenen Ständen (steigender Abgabendruck auf die Bauern, Anfechtung der ständischen Grenzen, ökonomische Krise des Ritteradels etc.) führten zu Verhaltensunsicherheit und existenzieller Bedrohung: „Alles ist zum Kaufhandel geworden“, nicht nur Kriegsdienst, Grund und Boden, Titel, Ämter und selbst die Königswürde, sondern auch das ewige Seelenheil. Das nährte die Kritik an der kirchlichen Hierarchie (Genuss der materiellen Pfründen bei Vernachlässigung des geistlichen Amtes) und an der mangelnden Bildung und Frömmigkeit des zahlreichen und verarmten niederen Klerus. (Antiklerikalismus) Der quantifizierenden Leistungsfrömmigkeit traten neue Bewegungen gegenüber (Devotio moderna: verinnerlichte Religiosität, asketische Lebensführung, Ideal der Christusnachfolge etc.). Genährt wurden diese Richtungen durch die humanistische Bildungsbewegung und die verbreitete Lektüre von Bibel und Erbauungsschriften in den Volkssprachen (Buchdruck!).