1.2. Die reformatorische Lehre: sola fide, sola gratia, sola scriptura

1.2.1. Gemeinsamkeiten der reformatorischen Richtungen

Bei aller Vielzahl divergierender reformatorischer Richtungen kann man doch „von der Reformation“ sprechen (Wendebourg, Einheit, 51, vgl. auch Hamm, Einheit): 

  1. Die frühe Reformation war ganz von der Person Luthers und seiner Lehre dominiert gewesen, bevor sich konkurrierende Richtungen herausbildeten.
  2. Alle diese Richtungen, von Luther bis zu den radikalen Täufern, hatten einen gemeinsamen Grundzug: die Ablehnung einer Vermittlungsinstanz zwischen dem einzelnen Gläubigen und Gott und die Zurückweisung einer abgestuften Wirksamkeit des göttlichen Heils (Ablehnung des altkirchlichen „Gradualismus“, vgl. Hamm, Einheit). 

Nicht durch gute Werke, Fürbitten der Heiligen und sakramentale Vermittlung durch geweihte Priester erlangt der Einzelne das Seelenheil, sondern es wird ihm allein aufgrund seines Glaubens (sola fide) von Gott aus reiner Gnade (sola gratia) geschenkt. An die Stelle der amtskirchlichen Lehrautorität tritt allein die Heilige Schrift (sola scriptura), die sich selbst auslege (sui ipsius interpres). Von den sieben Sakramenten als von der Kirche verwalteter Gnadenmittel blieben nur Taufe und Abendmahl als sakramentale Zeichen für Christi Verheißung übrig. Das ursprüngliche theologisch-seelsorgerische Anliegen Luthers, die Lösung der Frage, wie der grundsätzlich sündhafte Mensch vor Gott gerechtfertigt werden könne, führte dazu, dass der monopolistischen Heilsvermittlung und der weltlichen Herrschaft der römischen Kirche der Boden entzogen wurde. Die Hierarchie von Ordensklerus, Weltklerus und Laien machte dem „Priestertum aller Gläubigen“ Platz (auch das Verkündigungsamt ist ein Amt wie jedes andere; daher Abschaffung von Priesterweihe, Zölibat und Klöstern; Abendmahl unter den beiden Gestalten von Brot und Wein auch für die Laien). 

Die Wende zum rein geistigen, durch das Wort geoffenbarten Glauben hat Konsequenzen für alle (auch innerweltlichen) Lebensbereiche: Entsakralisierung von bisher als heilig geltenden Personen, Orten, Zeiten, Zeremonien, Bildern und Gegenständen; stattdessen ethische Aufwertung und „Verchristlichung“ des Alltäglichen im Diesseits, so vor allem des Ehestandes und der weltlichen „Berufe“ (der Einzelne kann in allen Ständen, an allen Orten und zu allen Zeiten Gott dienen); Stärkung des patriarchalischen Haushalts auf Kosten nicht-ehelicher Lebensformen (Roper, Haus).

1.2.2. Unterschiede zwischen Luther, Zwingli, Calvin, Müntzer und den Täufern

Es liegt fast in der Natur der reformatorischen Lehre, dass sie zu sehr divergierenden theologischen Positionen führen musste. Neben der Reformation von Wittenberg (Luther, Melanchthon) gab es vor allem im oberdeutschen Raum einflussreiche Ansätze (ZwingliCalvin, Butzer). Die Täufer und Müntzer zählen zu den radikalen Formen reformatorischer Prägung. Radikale Reformation

Die Unterschiede sollen hier kurz untereinander und in Abgrenzung zur altkirchlichen Position schematisch dargestellt werden:

Offenbarungsverständnis
Wie offenbart sich Gott dem Menschen - und daraus folgt: wie kann theologisch verantwortet argumentiert werden?

Katholiken

Die Offenbarung erfolgt durch die Buchstaben der Heiligen Schrift und durch die Tradition der kirchlichen Auslegung.

Luther, Calvin und Zwingli

Die Offenbarung erfolgt durch die Buchstaben der Heiligen Schrift.

Die Täufer, Müntzer

Die Offenbarung erfolgt unmittelbar durch den Heiligen Geist gegenüber dem Einzelnen, was eine radikale Spiritualisierung und Individualisierung des Glaubens bedeutet.


 

Abendmahlsverständnis
War auch die Taufe recht unstreitig, entzündeten sich am Abendmahl die unterschiedlichen Sakramentsverständnisse.

Katholiken

Durch die Gedächtnisfeier des Abendmahles (Eucharistie) verwandelt sich Brot und Wein in Christi Leib und Blut (Transsubstantiation).

Luther

In der Gedächtnisfeier des Abendmahls ist in Brot und Wein Christi Leib und Blut real präsent (Konsubstantiation).

Calvin

Zwar gibt es in der Gedächtnisfeier keine Verwandlung von Brot und Wein, doch haben sie beim Gläubigen die stärkende Wirkung von Leib und Blut Christi.

Zwingli, Die Täufer

Das Abendmahl wird als bloße Gedächtnisfeier betrachtet.

Müntzer

Abendmahl als Nachvollzug des Leidens Christi, Brot und Wein als Vermittler des Geistes Christi.


 

Kirchenverständnis
Immer dringlicher wurde die Frage nach der „wahren“ Kirche und woran und inwieweit sie erkennbar ist.

Katholiken

Wahre und sichtbare Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen der Kirche von Rom, die durch die Vermittlung des Klerus garantiert ist.

Luther

Sichtbare Kirche der Getauften und wahre, jedoch unsichtbare Kirche als Gemeinschaft aller Gläubigen.

Calvin und Zwingli

Kirche als (mit der politischen Gemeinde möglichst kongruente) korporative Abendmahlsgemeinschaft.

Die Täufer, Müntzer

Kirche als Geistkirche der Freiwilligen und Auserwählten.


 

Verhältnis zur obrigkeitlichen Gewalt
Die Verhältnisbestimmung zwischen geistlicher und weltlicher Herrschaft war von jeher ein umstrittener Punkt.

Katholiken

Zwei-Schwerter-Lehre: die weltliche Obrigkeit übt ein gottgewolltes Amt aus, über dieser steht jedoch noch die geistliche Herrschaft in der Person des Papstes.

Luther

Zwei-Reiche-Lehre zwischen forum internum und forum externum (inneres Gewissen und äußere Gewalt); die Obrigkeit übt ein gottgewolltes Amt, indem sie mit dem Schwert die Gottlosen in Schach hält; diese Gewalt endet vor dem Gewissen des Einzelnen, über die sie nicht gebieten darf; den Missbrauch der obrigkeitlichen Gewalt in allem Äußerlichen muss der Gläubige passiv erdulden.

Calvin und Zwingli

Vertreten die Auffassung, die geistliche Herrschaft komme der weltlichen Obrigkeit zu; die weltliche Ordnung muss dem Evangelium entsprechen; tut sie das nicht, so haben die Gläubigen ein Widerstandsrecht. Bei Zwingli und Calvin findet sich ein größeres aktives Engagement für die öffentliche Ordnung (Tendenz zur Theokratie; Erfahrungshintergrund: Stadtrepubliken) als bei Luther (Erfahrungshintergrund: Fürstliche Landesherrschaft).

Die Täufer, Müntzer

Ablehnung aller kirchlichen Obrigkeit, das Abstreifen aller weltlichen Bindungen, die Ablehnung von Kriegsdienst, Eid und Steuerleistung; meist Bereitschaft zu passivem Leiden, aber gelegentlich auch Umschlag zu aktivem, gewaltsamem Kampf für die Ankunft des Gottesreiches.