1.4. Die evangelische Bewegung in Stadt- und Landgemeinden

Aus dem religiösen Protest gegen die Amtskirche, die Luther besonders mit seiner Flugschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ im Jahre 1520 entfachte, entwickelten sich soziale Proteste gegen die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der frühmodernen Staatsbildung, aber auch das Aufbegehren gegen die wirtschaftliche und soziale Bedrängnis (Sickingischen Fehde 1522/23, Bauernkrieg 1524/25). Der religiöse Wille zur kirchlichen Erneuerung, die als Rückkehr zu einem ursprünglichen, evangelischen Zustand begriffen wurde, vereinigte sich mit dem politischen Willen, das Leben in Stadt und Land zu reformieren. 

Aufnahme und Weiterentwicklung des reformatorischen Gedankengutes sind verschieden je nach den politisch-sozialen Voraussetzungen, Bedürfnissen und Erwartungen. Die evangelische Bewegung der 1520er Jahre wirkte vor allem in städtischen und ländlichen Gemeinden. Städte spielten eine Vorreiterrolle, sie bildeten oft die frühen Zentren der evangelischen Bewegung. Die Aufnahme der Reformation durch die ländlichen Gemeinden rückte – mit Ausnahme des Bauernkrieges – erst spät ins Interesse der historischen Forschung. 

Im Gegensatz zu dieser von städtischen von bürgerlichen Genossenschaften getragenen Reformation blieben die meisten Territorien bis in die 1540er Jahre altkirchlich (Ausnahmen fürstlicher Frühreformationen z.B. Kursachsen 1526, Hessen: 1528 Ablösung Jurisdiktionsrechte Mainzer Erzbischöfe, Brandenburg-Ansbach 1533). Wichtige Etappen der Reformation als Fürstenreformation und damit als Staatsaktion waren die Niederschlagung des Bauernkrieges und der im Anschluss stattfindende Speyrer Reichstag, der die religionspolitische Verantwortung in die Hände der Reichsstände legte.

1.4.1. Städte

Die Reformation als Volksbewegung war 1525 mit der Niederschlagung des Bauernkrieges schon deshalb nicht am Ende, weil die mächtige Bürgerbewegung, die das Reich und die angrenzenden Regionen erfasste, sich ungebrochen fortsetzte.

In den 1520er Jahren breitet sich die evangelische Bewegung rasch vor allem in den Städten aus (autonome Reichsstädte in Oberdeutschland/Schweiz: Augsburg, Straßburg, Zürich, halbautonome Städte in Norddeutschland., Zentrum Wittenberg). Das innerstädtische Konfliktpotential zwischen Ratsoligarchien, Zunftbürgern und unterbürgerlichen Schichten aufgrund wirtschaftlicher Polarisierung kommt der evangelischen Bewegung entgegen.

Die besondere Affinität der Städte zur Reformation liegt in der Stadtgemeinde als „Sakralgemeinschaft“ (Moeller, Reichsstadt); d.h. Integration durch Stadtheilige und kommunale religiöse Rituale, Idee der kollektiven Verantwortung vor Gott. Die hohe Laienbildung steigert die Aufnahmebereitschaft für das Schriftprinzip. Die Reformation stärkt die städtische Autonomie (Selbstverwaltung, Satzungs-, Gerichts-, Strafkompetenz) durch „Kommunalisierung der Kirche“ (Blickle, Reformation): 

  • Vereinheitlichung der städtischen Gerichtsbarkeit
  • Gleichstellung der Geistlichen mit den Bürgern
  • freie Pfarrerwahl
  • städtische Verwaltung des Kirchenvermögens
  • Übernahme von bisher kirchlichen Funktionen (Armenfürsorge, Schule, Ehe- und Sittenzucht etc.) in städtische Hand

Typische Verlaufsformen städtischer Reformation waren: 

  • öffentliches Wirken reformatorischer Prediger und die Verbreitung von Flugschriften
  • Aufnahme der Lehren durch Teile der gemeinen Bürgerschaft
  • Ausschreitungen und demonstrative Verstöße gegen die altkirchliche Ordnung (Gottesdienststörungen, Bilderzerstörung, Priesterhochzeiten, Laienkelch, antiklerikaler Protest etc.)
  • Auseinandersetzungen mit der Ratsobrigkeit, die sich die Forderungen entweder freiwillig zu Eigen macht oder dazu unter dem Druck von unten genötigt wird (z.T. unter Durchsetzung erweiterter zünftischer Partizipation)
  • schließlich Institutionalisierung der Reformation und Durchsetzung eines städtischen Kirchenregiments (Abschaffung der Messe, städtische Verwaltung des Kirchen- und Armenguts, Erlass städtischer Kirchen-, Zucht- und Eheordnungen etc.)

Die großen Reichsstädte und Druckzentren, wo die neuen Ideen am raschesten hingelangten – also Nürnberg, Augsburg, Basel und Straßburg – vertraten Seite an Seite mit den evangelischen Fürsten die Reformation auch auf den Reichstagen. Vierzehn Reichsstädte schlossen sich 1529 in Speyer der Protestation an, die der Bewegung den Namen gab (Protestanten), darunter Ulm, Konstanz, Straßburg und Memmingen. Von den gut fünf Dutzend Reichsstädten blieben nur fünf unberührt von der Reformation und das waren unbedeutende Nester – Buchau am Federsee, Pfullendorf, Zell am Hammersbach, Rosheim und Türkheim. Nicht viel anders sah es in den zu Hunderten zählenden Städten aus, die unter landesherrlicher Gewalt standen. 

1.4.1.1. Münsteraner Täuferreich

In einigen Fällen radikalisierte sich die reformatorische Bürgerbewegung politisch und religiös. Diese Radikalisierung war das Werk charismatischer Propheten, die den apokalyptisch-chiliastischen Umsturz aller Dinge und die endzeitliche Erneuerung der Welt predigten. Es kam zu gewaltsamen Ausbrüchen gegen die alten Machthaber in Kirche und Magistrat, nicht selten begleitet von einem Bildersturm, der die eben noch verehrten Kunstwerke einer überlebten Frömmigkeit hinwegfegte. Diese Tendenzen überschlugen sich im Münsteraner Täuferreich.

Die Parallelität zum Alten Testament sollte das neue auserwählte Volk Israel der westfälischen Bischofsstadt noch weiter von den gesellschaftlichen und politischen Traditionen des alteuropäischen Bürgertums abweichen lassen. Dem Volk Gottes fehlte der alttestamentarische König. Den zwölf Ältesten, die unter Jan van Leiden als Oberhaupt der Stadt gewählt wurden, wird eines Tages das Schwert, seit alters her das Symbol der Regierungsgewalt, abgenommen und dem Jan van Leiden, dem „Johan, der gerechte, konningk in dem stole Davidz“, überreicht. 

1.4.2. Landgemeinden

Es gab eine regional unterschiedlich ausgeprägte Tendenz zur Autonomie bäuerlicher Gemeinden seit dem Spätmittelalter, welche Peter Blickle mit dem Konzept des „Kommunalismus“ beschrieben hat. Damit eng verbunden ist die ländliche Aneignung der Reformation, die „Gemeindereformation“ (Blickle), d.h. ein Streben nach einer eigenen religiösen „Grundversorgung“ (Predigt des reinen Evangeliums, eigene Kirche, eigener Pfarrer, freie Pfarrerwahl, gebührenfreie Sakramentsspendung, eigene Verwaltung des Kirchenzehnten etc.). 

Die ländliche Gesellschaft war zu Beginn der FNZ unter zunehmenden Druck steigender Abgaben geraten (durch die Grundherrschaft, die Steuerforderungen des entstehenden Staates), dazu kamen Einschränkungen der Allmendenutzung, die v.a. die stark anwachsenden landarmen oder landlosen bäuerlichen Schichten traf, und eine Besitzkonzentration, die die gesellschaftliche Differenzierung in den ländlichen Gemeinden verstärkte. Forderungen nach Verringerung von Abgaben und Leistungen sowie Abschaffung der Leibeigenschaft verbanden sich mit dem reformatorischen Anliegen und führten 1524/25 zu einer breiten Aufstandsbewegung („Bauernkrieg“ in Süd-, Südwest-, Mitteldeutschland, vor allem in urbanisierten Gebieten von kleinräumig zersplitterter Herrschaft). Die Berufung auf die Heilige Schrift verlieh herkömmlichen Beschwerden eine neue Radikalität, religiöse Legitimation und überregional integrierende Wirkung. In den militärischen Auseinandersetzungen gegen die Truppen des Schwäbischen Bundes im Frühjahr 1525 erleiden die Bauern eine totale Niederlage.