2.1. Ereignisgeschichtliche Entwicklung auf Reichsebene

2.1.1. „Fürstenreformation“ in den Territorien

In der frühen Phase der Reformation, die durch Volksbewegungen, städtische und ländliche Genossenschaften getragen wurde, blieben die meisten Territorien altkirchlich (Ausnahmen fürstlicher Frühreformationen z.B. Kursachsen 1526, Hessen 1528, Brandenburg-Ansbach 1533). In einer zweiten Phase folgte die Kanalisierung und Institutionalisierung der Reformation durch die Obrigkeit, die so genannte „Fürstenreformation“. (Als Zäsur wird meist die Niederschlagung des Bauernkrieges und der darauf folgende Speyrer Reichstag von 1526 verstanden; vgl. Periodisierungsfragen).

Die Einführung der Reformation in einem Territorium verstärkte die Tendenzen der großen Landesherren im Reich zur Herrschaftsarrondierung und -konzentration auf Kosten der intermediären Gewalten: Niederadel, Städte und Kirche (Durchsetzung des Gewaltmonopols, intensivierte Normierungstätigkeit etc., dagegen „Ritterfehde“ 1522). Damit standen die Landesherren in einer bereits im Spätmittelalter bekannten Kontinuität des landesherrlichen Kirchenregiments, das allerdings durch die Reformation und die anschließende Konfessionalisierung eine neue Qualität erhielt und eine qualitative wie quantitative Machtsteigerung der Landesherrschaft bedeutete (Mediatisierung von Bistümern, Säkularisierung von Klöstern, Übernahme kirchlicher Funktionen wie Armenfürsorge, Eherecht, Sittenzucht, Hochschulen etc.); dazu entstehen landesherrliche Oberbehörden für geistliche Sachen, Kirchenordnungen etc.

2.1.2. Entwicklung 1530-1555

Auf dem Augsburger Reichstag 1530 konnte keine Einigung in der Religionsfrage erzielt werden. Daraufhin erfolgte 1531 die Gründung des Schmalkaldischen Bundes der evangelischen Fürsten und Städte unter Führung von Kursachsen und Hessen als militärischem Defensivbündnis gegen die Exekution des Wormser Edikts. Der Nürnberger Anstand 1532 zögerte einen militärischen Konflikt noch hinaus; unterdessen erhielt aber das evangelische Bündnis weiteren Zuwachs.

Karl V. suchte die Religionseinheit im Reich zunächst vergebens über ein Generalkonzil, dann über Religionsgespräche (1540, 1541) wiederherzustellen, provozierte aber schließlich den militärischen Konflikt in einem für ihn günstigen Moment 1546 (Frieden mit auswärtigem Gegner Frankreich) und siegte 1547 im Schmalkaldischen Krieg. Es folgte die Rekatholisierung der Reichsstädte; das Augsburger Interim 1548 diente als kaiserlich dekretierte Übergangslösung für die Protestanten (Zugeständnisse Laienkelch und Priesterehe) bis zur Wiederherstellung der Religionseinheit, die vom Konzil von Trient erwartet wurde (1545 eröffnet). Jedoch ließ sich die Reformation in den Territorien gegen die Landesherren nicht mehr rückgängig machen: protestantischer Fürstenaufstand gegen Karl V., vorläufige Einigung unter dessen Bruder Ferdinand I. im Passauer Vertrag 1552; Karl V. zog die Konsequenz aus dem Scheitern seiner Universalpolitik und dankte ab.

2.1.3. Augsburger Religionsfrieden von 1555

Keine Seite konnte der anderen ihr Verständnis der religiösen Wahrheit aufnötigen. Die Spaltung der Kirche ließ sich weder theologisch (Religionsgespräche, Konzil), noch juristisch (kaiserliche Mandate, Religionsprozesse vor den höchsten Reichsgerichten), noch militärisch (Schmalkaldischer Krieg) rückgängig machen; der kaiserliche Universalanspruch scheiterte an der „Libertät“ der mächtigen protestantischen Fürsten. Während die Landesherren auf der Ebene ihrer Territorien die konfessionelle Einheit des Untertanenverbandes anstreben, etabliert der Augsburger Religionsfriede auf der Ebene des Reiches bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges das rechtlich geordnete Nebeneinander der konkurrierenden Konfessionen. Im Rahmen der Reichsverfassung wird ein juristisch-politischer Modus der konfessionellen Koexistenz gefunden, während die theologische Wahrheitsfrage in der Schwebe bleibt. Der Augsburger Religionsfriede ist Bestandteil eines Reichsabschiedes, d.h. eines Vertrages zwischen Kaiser bzw. König Ferdinand und den Reichsständen (Kurfürsten, Fürsten und Städte); sie (nicht die einzelnen Untertanen) sind Subjekte der darin garantierten Rechte.

Regelungen des Augsburger Religionsfriedens:

  • Allgemeiner Landfrieden
  • Reichsstände, die der Augsburger Konfession anhängen, und Reichsstände katholischen Glaubens genießen wechselseitige Anerkennung, andere Glaubensrichtungen nicht
  • Die Reichsstände haben in ihren Territorien die Kirchenhoheit (ius reformandi, spätere Formel: cuius regio eius religio), aber Untertanen anderen Glaubens dürfen auswandern (ius emigrandi); 
  • Reichsstädte bleiben bikonfessionell
  • Die bisherige Säkularisierung von Kirchengütern wird sanktioniert
  • Die geistliche Gerichtsbarkeit gegenüber Protestanten (Ketzerrecht!) wird suspendiert

Die neue Exekutionsordnung und die neue Reichskammergerichtsordnung stellen rechtliche Formen für den Konfliktaustrag im Reich bereit.

Quellen künftiger Konflikte: 

  • „Geistlicher Vorbehalt“: geistliche Reichsfürsten, die protestantisch werden, verlieren ihre Herrschaft; dafür soll das evangelische Bekenntnis der Landstände (Adel und Städte) in diesen Territorien garantiert werden („Declaratio Ferdinandea“ als geheimes Zugeständnis des Königs an die protestantischen Reichsstände). 

Offene Fragen, die durch „dissimulierende“ Formeln überdeckt werden: 

  • Wer gehört zur Augsburger Konfession und genießt den Schutz des Augsburger Religionsfriedens und wer entscheidet darüber? 
  • Wie weit geht das ius reformandi der Landesherren, insbesondere gegenüber den Landständen? 
  • Ist der Augsburger Religionsfriede eine vorübergehende Übergangs- und Ausnahmeregelung bei grundsätzlicher Fortgeltung des kanonischen Rechts (so die Lesart der Katholiken) oder ein allgemeines, unumstößliches Reichsgrundgesetz, das beide Konfessionen vollkommen gleichstellt (so die Protestanten)? 

Der Augsburger Religionsfriede als Wendepunkt: 

Auseinandertreten von kanonischem Recht und Reichsrecht, d.h. von religiöser und weltlicher Ordnung, die traditionell eine unauflösliche Einheit dargestellt hatten (mittelalterliches Verständnis der einheitlichen göttlich begründeten Gesamtordnung zerbricht; Reichsrecht schützt Ketzer!). Das Reich als überkonfessionelle Rechtsordnung ermöglicht zugleich die Konfessionalisierung in den Territorien. Die Individualisierung der Religion ist in einer ständisch-korporativ strukturierten Umwelt noch kaum möglich (Kriminalisierung der Täufer).