4.1. Völkerrecht
Das Bewußtsein, daß die Beziehungen unter den Europäischen Mächten sich in geregelten Bahnen vollziehen, manifestiert sich in einer regen völkerrechtlichen Theorie und Praxis. Im 18. Jh. wird die Summe der Normen und Ansprüche mit dem Begriff "ius publicum europaeum" bezeichnet. Die Geschichte des Völkerrechts zwischen 1648 und 1789 ist nicht völlig befriedigend erforscht, vorhandene Zusammenfassungen sind entweder veraltet oder stammen aus einer spezifisch juristischen Perspektive, d. h. sie legen Kategorien des heutigen Rechts zugrunde. Grewe beruht im Wesentlichen auf Vorarbeiten aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges.
4.1.1. Theorie
In der Völkerrechtstheorie werden Gegenstandsbereich und Funktionsweise des Völkerrechts eingegrenzt. So entsteht das moderne Völkerrecht in seiner spezifischen Form.
4.1.1.1. Hugo Grotius und die Lehre von der Souveränität
Hugo Grotius systematisiert 1625 in "De iure belli ac pacis" die Lehren seiner Vorgänger und schafft damit eine zusammenhängende, auf die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten anwendbare Völkerrechtslehre. Die Schrift bleibt bis zum Ende des Ancien Régime das Standardwerk des Völkerrechts. Kern des Werkes ist die Lehre von der Souveränität. Souverän sind diejenigen Mächte, die keine höhere Gewalt über sich anerkennen. Sie sind die prinzipiell gleichberechtigten Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft, die nun theoretisch klar von nicht völkerrechtsfähigen Akteuren unterschieden sind.
Der Regelungsbereich des Völkerrechts sind Krieg und Frieden, die beide als Rechtszustände gelten und klar voneinander getrennt werden. Souveränität beinhaltet wesentlich das Recht zur Kriegsführung als Mittel zur Rechtsverfolgung in Abwesenheit einer höheren Autorität; wer nicht souverän ist, ist auf den regulären Rechtsweg verwiesen. Der Krieg ist damit einerseits nicht aus beliebigen Gründen erlaubt, aber die Auffassung, daß nur jeweils eine Partei einen "gerechten Krieg" führen kann, wird verabschiedet.
4.1.1.2. Völkerrechtstheorien der Aufklärungsepoche
Die theoretischen Entwürfe der Aufklärung beschäftigen sich intensiv mit der Natur völkerrechtlicher Normen. Für Hobbes existiert Recht nur innerhalb eines Staates, wo ein mit Gewaltmonopol ausgestatteter Souverän Normen setzt und ihre Einhaltung überwacht. Auf internationaler Ebene existier damit nur ein regelloser "Naturzustand", das Völkerrecht existiert nicht.
Für andere Theoretiker wie Pufendorf ist der Naturzustand zwischen den Staaten zwar nicht regellos, aber die Normen sind eben Teil des Naturzustandes prinzipiell unveränderlich. Rechtsphilosophen wie Wolff und der von ihnen beeinflußte Diplomat Emer de Vattel begreifen dagegen Europa als Gemeinschaft von Staaten, deren Beziehungen auch ohne zentrale Autorität durch ein Geflecht gemeinsamer Normen geregelt sind. Die Normen des Völkerrechts folgen zum einen Teil als "Naturrecht" aus reiner Vernunft uns sind damit überzeitlich gültig. (Modernes Naturrecht) Weitere Normen treten durch Gewohnheiten und ausdrückliche Regelung in Form von Verträgen im Zuge der gemeinschaftlichen Praxis hinzu. Damit wird das Völkerrecht gestaltbar und an die Praxis des völkerrechtlichen Verkehrs gebunden. Im 18. Jh. werden zahlreiche Versuche unternommen, das "ius gentium positivum", die Summe der anerkannten Normen, aber auch der zahllosen sich zum Teil widersprechenden Besitzansprüche zu systematisieren, indem Dokumente zusammengetragen und publiziert werden. Die Sammlungen zeugen von der praktischen Bedeutung des Völkerrechts, beruhen sie doch auf der Völkerrechtspraxis und sind für den praktischen Gebrauch gedacht. Sie haben aber mit der grundsätzlich widersprüchlichen Struktur der unterschiedlichen Ansprüche zu kämpfen. Der wechselseitige Bezug von Theorie und Praxis zeigt sich auch an den theoretischen Einzelschriften, die regelmäßig zu jeweils aktuellen Problemen verfaßt werden.
Im 18. Jh. entspinnt sich eine Debatte über das Verhältnis von Völkerrecht und balance of power. Es erheben sich Forderungen, völkerrechtliche Ansprüche auszuschalten, die das Gleichgewicht zwischen den europäischen Mächten gefährden. Die Wahrung des Gleichgewichts steigt für manche sogar zum legitimen Kriegsgrund auf.
4.1.2. Praxis
4.1.2.1. Anwendung und Fortentwicklung des Völkerrechts
Die Berufung auf das Völkerrecht ist Voraussetzung jeder Interessendurchsetzung, sowohl in friedlicher Form wie auch für die Rechtfertigung eines Krieges. Eine intensive, von den Regierungen initiierte Propaganda wendet im Konfliktfall das Völkerrecht an. In der höfischen Welt des 17. und 18. Jahrhunderts bezwecken sie nicht unbedingt die Beeinflussung von Regierungen auf den Umweg über eine breite "Öffentlichkeit", sondern man erhofft sich direkte Auswirkungen im Kreis der europäischen Souveräne und Entscheidungsträger. (Gestrich) (Öffentlichkeit)
Die Bedeutung des Völkerrechts zeigt sich gerade dort, wo es ziemlich offensichtlich ignoriert wird, bei der Eroberung Schlesiens durch Friedrich II. Zwar kann er seine auf erkennbar vorgeschobene Gründe gebauten Ansprüche letztlich durchsetzen. Aber erstens glaubt selbst Friedrich nicht, auf die Geltendmachung dieser Gründe verzichten zu können. Zweitens wird die Eroberung Schlesiens erst nach jahrzehntelangen Kriegen (u.a. Siebenjähriger Krieg) endgültig vom Rest Europas anerkannt.
Insbesondere die großen Kongresse erlauben, durch Verträge und gemeinsame Gewohnheiten das Völkerrecht weiterzuentwickeln. (Kongresse und Friedensschlüsse) Verträge, die vor allem Friedensverträge sind, gewinnen eine fundamentale Bedeutung bei der Regelung von Einzelfragen wie der Entwicklung allgemeiner Normen. Es stehen allgemein anerkannte multilaterale Verträge, die das Ergebnis der großen Kongresse sind, neben solchen, die - von wenigen Parteien unterzeichnet - der Durchsetzung partikularer Ansprüche dienen. So werden mehrere Verträge abgeschlossen, um das Erbe des kinderlosen spanischen Königs Karl II. vor seinem Tod aufzuteilen - aber nicht, um die Erbfrage einvernehmlich zu regeln, sondern jeweils um mindestens einen potentiellen Erben zu Gunsten einer Übermacht anderer zu übergehen, zudem ohne Einflußnahme der spanischen Regierung.
Grundsätzlich dient das Herkommen als Grundlage für alle Formen von Ansprüchen. Auch Verträge berufen sich grundsätzlich auf ältere Verträge und werden als deren Fortschreibung verstanden. Zur Grundlage der Europäischen Staatenordnung, auf die immer wieder Bezug genommen wird, entwickelt sich der Westfälische Friede.
Der Kreis der Völkerrechtssubjekte vereinheitlicht sich tendenziell und grenzt sich klarer ab. Den Souveränen stehen die Untertanen gegenüber. Souveränität wird damit allmählich auch Grundlage der völkerrechtlichen Praxis. (Hugo Grotius und die Lehre von der Souveränität, Souveränität) Die Abgrenzung der Völkerrechtssubjekte findet sowohl nach innen im Prozeß der Staatsbildung wie im "Theatrum Europaeum" der Kriegführung (Krieg) und Diplomatie statt. Dieser Prozeß hat allerdings schon lange vor dem Westfälischen Frieden begonnen und ist 1648 noch keineswegs abgeschlossen.
4.1.2.2. Inhaltliche Probleme
Verschiedene Problemfelder werden durch explizite Regelung oder sich verfestigende Gewohnheit Teil des "ius publicum europaeum": So werden genaue Grenzverläufe festgeschrieben und Thronfolgeordnungen gegenseitig garantiert. Diese sind aufgrund der familiären Verflechtung innerhalb des europäischen Hochadels keineswegs innere Angelegenheiten. (Dynastie)
Die Auffassung, daß die Hoheitsgewässer eines Staates an der Dreimeilengrenze enden, setzt sich allmählich durch. Die Neutralität als fester völkerrechtlicher Status mit bestimmten Rechten und Pflichten bildet sich im Laufe der Epoche heraus. Auch Fragen des zeremoniellen Umgangs der Diplomaten bilden einen wesentlichen Teil der internationalen Beziehungen und gelten als gewohnheitsrechtliche Ansprüche. (Zeremoniell) Nicht nur die inhaltlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge sind wesentlich für die Fortentwicklung des Völkerrechts. Feste Gewohnheiten bilden sich auch für die Form der Verträge aus. Insbesondere werden Amnestie und Vergessen in Bezug auf alle Kriegshandlungen vorgeschrieben. Was im Krieg geschehen ist, soll im Frieden keine Rolle mehr spielen. (Fisch)
Wie in der Völkerrechtstheorie gilt auch in der Praxis der Krieg als legitimes Mittel der Interessenverfolgung, die Friedensbestimmungen beenden den Krieg ohne Schuldzuweisungen. Der Friede soll ewig sein, d.h. die geregelten Materien endgültig regeln, nicht jeden zukünftigen Krieg verhindern. Es wird der Versuch unternommen, alle anstehenden Probleme zu lösen. Schließlich bildet sich ein bestimmtes Repertoire von Techniken heraus, die die Umsetzung des Vertrags sicherstellen sollen.