4.4. Politische Leitbegriffe und Kategorien
4.1.1. Theorie
4.4.1.1. Erhaltung des "Gleichgewichts von Europa"
Grundsätzlich meint "balance of power" die Abwehr aller Vormachtansprüche einzelner Mächte durch Zusammenschluß ausreichend mächtiger Gegner bzw. das Bestehen einer Ordnung, in der die Abwehr dieser Ansprüche durch eine gleichmäßige Machtverteilung sichergestellt ist.
Die Koalitionskriege gegen Ludwig XIV. sind ein Beispiel. Der Zusammenschluß von Ludwigs Gegnern beruht nicht zuletzt darauf, daß seine Expansionsbestrebungen ein Gefühl der gemeinsamen Bedrohung durch eine "Universalmonarchie" (Bosbach) erzeugen. Zumindest seine Gegner unterstellen Ludwig, er wolle sich eine alleinige Vorrang- und Vormachtstellung in Europa sichern. Dagegen gilt die Konkurrenz zweier Großmächte, der Habsburger und Frankreichs, als ein Zustand, der allen anderen Mächten ihre Freiheit garantiert: Die Großmächte blockieren sich gegenseitig, wenn die anderen Mächte stets die Schwächere unterstützen.
Nach dem Frieden von Utrecht etabliert sich dagegen ein System mehrerer konkurrierender Großmächte, die in wechselnden Konstellationen miteinander koalieren und konkurrieren. Der zeitgenössische Begriff "Pentarchie" gibt der Vorstellung Ausdruck, daß fünf Großmächte die europäischen Beziehungen kontrollieren. Wer zu diesen Mächten gehört, ist allerdings umstritten. Im Rückblick von heute herrscht zumindest für die zweite Hälfte des 18. Jh. Einigkeit: Frankreich, Großbritannien, Österreich, Rußland und Preußen gelten als die Pentarchiemächte.
Insbesondere Großbritannien sieht sich selbst zunehmend in der Rolle, das "Gleichgewicht" auf dem Kontinent als unbeteiligter Dritter zu wahren - indem es Angriffe auf das Gleichgewicht abwehren hilft, aber auch indem es, falls die Erfolge der eigenen Verbündeten ihrerseits das Gleichgewicht zu gefährden drohen, deren Unterstützung einstellt - so etwa im Spanischen Erbfolgekrieg. Während die britischen Regierungen sich für das Gleichgewicht auf dem Kontinent einsetzen, verfolgen sie allerdings den Ausbau der eigenen Vorherrschaft in Übersee. (Europäische Expansion)
4.4.1.2. Convenance
Die balance of power ist keineswegs auf die Wahrung des status quo ausgelegt. Vielmehr steht sie in enger Verbindung mit dem zeitgenössischen Konzept der "Convenance". Convenance bedeutet, daß die anderen Großmächte für Zugewinne einer Großmacht mit eigenen Zugewinnen entschädigt werden müssen. Das verleiht der balance of power einen aggressiven Charakter, der schwächere Mächte potentiell zur Verfügungsmasse für die Wahrung des Gleichgewichts macht.
4.4.1.3. Konsequenzen
Die Prinzipien von balance of power und Convenance bedeuten vor allem, dass keine Verschiebung der Machtverteilung in Europa mehr für Dritte irrelevant ist. Zusammen mit der ständigen gegenseitigen Beobachtung durch diplomatische Kontakte (Diplomatischer Verkehr) und der Aushandlung von Veränderungen der Ordnung unter allgemeiner Beteiligung auf Kongressen (Kongresse und Friedensschlüsse) schaffen sie die Grundlagen für und sind sie Ausdruck des Zusammenwachsens Europas zu einem einheitlichen Handlungsfeld, in dem sich auch alle Konflikte rasch internationalisieren.
4.4.2. Souveränität
Souveränität als Grundlage der internationalen Beziehungen bedeutet, daß es sich allein um die Beziehungen zwischen Staaten, die untereinander prinzipiell gleich sind und ihre inneren Angelegenheiten frei bestimmen können. Daß Souveränität in diesem Sinne keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, die für viele durch einen Bedeutungsverlust von Souveränität gekennzeichnet ist. Nicht umsonst ist selbst der Begriff "Internationale Beziehungen" als Fachbezeichnung in die Kritik geraten (anstelle zahlloser Verweise: Scholte).
Charakteristisch für die internationalen Beziehungen der Epoche zwischen 1648 und 1789 sind dagegen die zunehmende Bedeutung von Souveränität und die Probleme, die mit ihrer Durchsetzung verbunden sind. Die Beschränkung der Teilnehmer an den internationalen Beziehungen auf eine kleine und klar abgegrenzte Gruppe von Akteuren schreitet wesentlich voran. Nur diese werden schließlich anerkannt als Verhandlungs- und Bündnispartner, legitime Kriegsgegner - und als Teilnehmer am Heiratsmarkt der hochfürstlichen Familien.
Die Lehre von der Souveränität ist Teil und Grundlage der Völkerrechtstheorie. Grundlegend für das Völkerrecht des 17. und 18. Jh. ist auch in dieser Hinsicht Hugo Grotius' Werk "De iure bello ac pacis". Souverän sind diejenigen Mächte, die keine höhere Gewalt über sich anerkennen. Sie sind die prinzipiell gleichberechtigten Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft, die nun theoretisch klar von nicht völkerrechtsfähigen Akteuren unterschieden sind - den Untertanen. Unabhängig von anderen Eigenschaften wie ihrer Macht sind die souveränen Herrscher bzw. die souveränen Staaten untereinander völkerrechtlich gleich.
Souveränität beinhaltet wesentlich das Recht zur Kriegsführung als Mittel zur Rechtsverfolgung in Abwesenheit einer höheren Autorität; die Untertanen sind dagegen auf den regulären Rechtsweg verwiesen. Der Krieg ist damit einerseits nicht aus beliebigen Gründen erlaubt, aber die Auffassung, daß nur jeweils eine Partei einen (absolut) "gerechten Krieg" führen kann, wird verabschiedet.
Praktisch findet die Durchsetzung der Souveränität als Grundlage der Internationalen Beziehungen sowohl nach innen im Prozeß der Staatsbildung (Wachstum der Staatlichkeit) wie im "Theatrum Europaeum" der Kriegführung (Krieg) und Diplomatie statt. Dieser Prozess hat schon lange vor dem Westfälischen Frieden begonnen, ist allerdings auch nicht einfach mit dem Vertragsschluß von 1648 abgeschlossen. Noch fügen sich allerdings bei weitem nicht alle Herrschaftseinheiten in Europa in dieses dichtotmische Schema. Außerdem sind die Macht der Staaten, ihre (völker-) rechtliche Qualität und die soziale Rolle der jeweiligen Fürsten unter den europäischen Potentaten in der Praxis noch keineswegs so ausdifferenziert, wie die Theorie es verlangt.
Selbst für Könige sind Würde und Vorrang unter ihresgleichen nach wie vor wichtige Handlungsmotive - auch wenn ihre Rolle als voll handlungsfähige Teilnehmer an den internationalen Beziehungen schon lange im wesentlichen unbestritten ist. Anders ist die Lage etwa bei den deutschen Reichsfürsten. Trotz der im Westfälischen Frieden zugesicherten Bündnisfreiheit sind ihre Ansprüche auf Gleichbehandlung mit den Königen - gerade im diplomatischen Verkehr - lange gefährdet (Zeremoniell). Das führt zu dem Versuch zahlreicher europäischer Fürsten, ihre Ansprüche durch den Erwerb eines Königstitels endgültig abzusichern (Duchhardt).