4.5. Grundlagen der mächtepolitischen Ordnung

4.5.1. Dynastie

4.5.1.1. Staat und Fürst

Staaten organisieren sich zum großen Teil um die Person des Herrschers herum, der erst die Integration der in räumlicher Lage und Herrschaftsstruktur oft völlig uneinheitlichen Territorien zu einem Herrschaftsbereich ermöglicht. Zwar differenziert die Völkerrechtstheorie klar zwischen "Staaten" als Akteuren und "Souveränen" als deren Repräsentanten. Allerdings lassen sich bei den "puissancen", den Mächten, die auf der europäischen politischen Bühne agieren, beide Funktionen oft keineswegs so klar trennen.

Die internationalen Beziehungen sind in vieler Hinsicht soziale Beziehungen zwischen den europäischen Potentaten und ihren Dynastien. Russlands Eintritt ins europäische Staatensystem vollzieht sich nicht zufällig parallel zu einem Prozess des Einheiratens in den europäischen Hochadel. Und gleichzeitig mit der zunehmenden Verfestigung der Staatensystems sondern sich auch die Kronadelsfamilien zunehmend vom nichtsouveränen Adel ab.

4.5.1.2. Erbfolge

Damit sind die internationalen Beziehungen hochgradig über Erbfolgeansprüche organisiert. Sie bilden die bevorzugte Grundlage für alle Formen gegenseitiger Ansprüche. Die komplizierte Vernetzung der Europäischen Hochadelsfamilien macht die Erbfolge ausgesprochen konfliktträchtig und Erbfolgekriege zu einem der am meisten verbreiteten Kriegstypen der Epoche. Es entsteht das Bemühen, Erbfolge in den Territorien einer Dynastie einheitlich und eindeutig zu regeln und die Erbfolgeregelungen - keineswegs "innere Angelegenheiten" der "Staaten" - durch gegenseitige Verträge zum verbindlichen Teil des ius publicum europaeum zu machen. (Inhaltliche Probleme) Bekanntestes Beispiel ist die "Pragmatische Sanktion", mit der Kaiser Karl VI. die einheitliche Erbfolge in allen Ländern der österreichischen Habsburger auch in weiblicher Linie durchsetzen will. Sie wird zwar von fast allen europäischen Staaten vertraglich garantiert, aber die Erbfolge seiner Tochter Maria Theresia muß dennoch erst im Österreichischen Erbfolgekrieg durchgesetzt werden. Die Erbfolge ist also einerseits durch die dynastischen Komplikationen keine innere Angelegenheit und wird deshalb zum Gegenstand völkerrechtlicher Reglung. Andererseits beinhalten gerade diese Regelungen ein Zurücktreten der dynastischen Logik zugunsten der Logik eines Staatensystems und machen damit Fragen der Herrschaftsnachfolge zunehmend doch zur inneren Angelegenheit. Erstens versuchen alle Regelungen eine einheitliche Erbfolge in allen Territorien einer Dynastie durchzusetzen und Teilungen zu verhindern. Zweitens werden auch territoriale Zugewinne durch Erbfolge eingeschränkt: So verzichten nach dem Spanischen Erbfolgekrieg die beiden bourbonischen Linien auf dem französischen und spanischen Thron auf wechselseitige Erbfolgeansprüche und werden damit an ihre jeweiligen Staaten gebunden, nicht umgekehrt die Territorien an die Dynastie. Solche Regelungen setzen sich allerdings keineswegs überall durch. Schon zwei Jahre später erbt Kurfürst Georg I. Ludwig von Hannover die britische Krone, bleibt aber auch als König von Großbritannien Kurfürst - wie seine Nachfolger bis 1837 (ab 1815 als Könige).

4.5.1.3. Gloire

Ein weiteres Element, das durch den engen Zusammenhang von Staat und Fürst Teil der internationalen Beziehungen wird, ist die Frage der fürstlichen "gloire". Das Handeln ist orientiert an der Würde der Fürsten, die diese in Zeremoniell (Zeremoniell) und Kriegführung (Institutionalisierungsdefizit) zu verwirklichen suchen.

4.5.2. Staatsräson und Staatsinteresse

Der Begriff der Staatsräson wird, ausgehend vom Italien des 16. Jh.s, in erster Linie in Auseinandersetzung mit dem Prozeß der inneren Staatsbildung geprägt und verbreitet. (Staatsräsonlehre) Er löst die politische Handlungslogik tendenziell von religiösen Bezügen und privilegiert die fürstliche Herrschaft als alleinige und ausschlaggebende Gewalt gegenüber allen Untertanen. In der zweiten Hälfte des 17. Jhs. ist die Debatte um den Begriff weitgehend erlahmt, die Staatsräson ist aber zur selbstverständlichen Grundlage auch außenpolitischen Handelns geworden. (Stollberg-Rilinger, Stolleis, Münkler) Interesse und Macht werden zu den Grundkategorien außenpolitischen Denkens und Handelns. Aus der Staatsräson- geht die Staatsinteressenlehre hervor. Die eigenen Handlungen müssen am "Staatsinteresse" ausgerichtet werden, die konkurrierenden Mächte in Bezug auf ihre Interessen genau analysiert werden. Ebenso wesentlich ist, die eigene Macht im Verhältnis zu anderen genau zu bestimmen und das eigene Machtpotential systematisch zu steigern. Schließlich soll die eigene Politik konsequent an einem "System" orientiert vorgehen. (Schilling) (Krieg und Staatsbildung) Vor diesem Hintergrund wird der Versuch unternommen, Macht und Interessen der Staaten im Rahmen einer "Politischen Geographie und Staatenkunde" oder "Statistik" wissenschaftlich zu erfassen. (Klueting)

4.5.3. Konkurrenz um knappe Ressourcen

Im Bewusstsein der Akteure spielen sich die internationalen Beziehungen in Form eines Kampfes um knappe Ressourcen ab, eines Nullsummenspiels ab, bei dem jeder nur auf Kosten der Anderen gewinnen kann. Konkurrenz besteht um:

  • Die exklusive Kontrolle von Territorien.
  • Wirtschaftliche Vorteile im Handel, nicht zuletzt mit den Kolonien. Da die vorherrschende merkantilistische Wirtschaftsheorie von einer konstanten Gesamtsumme des Wohlstandes ausgeht, handelt es sich auch hier um ein Nullsummenspiel.
  • Rang und Würde der europäischen Potentaten. Auch hier gibt es grundsätzlich keine Möglichkeit zur Vermehrung der Gesamtsumme an Würde.

Auch damit dürfte die Konflikthaftigkeit der internationalen Beziehungen der Epoche zusammenhängen. (Bellizität) Anders als für Staaten unserer Zeit ist eine Orientierung auf Gewinne durch Kooperation, die nicht auf Kosten Dritter gehen, in der Frühen Neuzeit nicht möglich. Die Konzeption des "limited good", der grundsätzlich beschränkten Menge der materiellen Güter, ist kennzeichnend für die frühneuzeitliche Gesellschaft insgesamt und prägt das gesamte vormoderne Wirtschaftsleben. (Subsistenzwirtschaft)

4.5.4. Europa und Übersee

Der Verlauf der Europäischen Expansion interessiert hier nur insofern, wie er zum Verständnis der Politik der europäischen Mächte in Europa erforderlich ist. (Europäische Expansion) Spätestens zu Beginn des 18. Jh.s hat sich ein klarer Kreis an Kolonialmächten herausgebildet: Nur Spanien, Portugal, Frankreich, England und den Niederlanden ist es gelungen, sich dauerhaft in Übersee zu etablieren. Bis Mitte des 18. Jh.s steht vor allem für Großbritannien, Frankreich und die Niederlande außerhalb Europas eher die Durchsetzung von Handelsinteressen als die territoriale Kontrolle im Mittelpunkt des Interesses. Die Kontrolle und Organisation der Territorien erfolgt nach anderen Prinzipien als in Europa, mit deutlich geringerer direkter Kontrolle und über semisouveräne (Souveränität) Gesellschaften, die Handelskompanien. Sie können wesentliche staatliche Funktionen wie Organisation der Territorien, aber auch Kriegführung selbständig übernehmen. Das erlaubt bis in die erste Hälfte des 18. Jh.s, außerhalb Europas entstandene Konflikte, insbesondere die aufgrund der unklaren Grenzverläufe unvermeidlichen Grenzstreitigkeiten, auf die Kolonien zu beschränken.

Dennoch bildet die Konkurrenz um den Handel mit den Kolonien schon in der ersten Hälfte des 18. Jh.s eine wesentliche Rolle in der Konkurrenz der europäischen Mächte, die sich deutlich bei den Friedenskongressen zeigt. (Kongresse und Friedensschlüsse) Die Mächte entsenden auf Handelsfragen spezialisierte Diplomaten, die Handelsgesellschaften betreiben eine intensive Lobbyarbeit und die Verträge regeln dann auch zahlreiche außereuropäische Fragen.

In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s werden Frankreich und Großbritannien zu den Hauptkonkurrenten um die Ausdehnung des eigenen Einflusses außerhalb Europas. Gleichzeitig richten sie ihre Politik zunehmend auf territoriale Kontrolle aus. Konflikte um Handel und Territorien in Übersee werden zum Hauptantrieb des englisch-französischen Gegensatzes und damit gesamteuropäischer Konflikte.

Die seit 1754 andauernde militärische Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und Frankreich schwelt für zwei Jahre nur in den Kolonien, weitet sich aber schließlich zum Siebenjährigen Krieg aus. Die Beilegung des Krieges auf den getrennten Kongressen von Paris und Hubertusburg ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die "Westmächte" mit ihren kolonialen und die "Ostmächte" mit ihren die europäische territoriale Ordnung betreffenden Konflikten ganz unterschiedliche Prioritäten haben. (Kongresse und Friedensschlüsse)

4.5.5. Tradition und Geschichte [nicht bearbeitet]