Emer de Vattel: Le droit des gens ou principes de la loi naturelle appliqués à la conduite et aux affaires des nations et des souverains, dt. hg. v. Walter Schätzel, Tübingen 1959, S. 17-27 (frz. Orig. 1758).

Emer de Vattel (1714-1767), schweizerischer Diplomat in französischen Diensten, ist einer der einflussreichsten völkerrechtlichen Autoren des 18. Jahrhunderts. Für ihn besteht das Völkerrecht zum Teil aus "Naturrecht", d.h. aus der Natur des Menschen mittels reiner Vernunft ableitbarem Recht zum Teil aus positivem Völkerrecht. Es ist Ergebnis sowohl der moralischen Verpflichtung des Einzelnen wie der Gemeinschaft der Nationen untereinander. Das zentrale Prinzip dieser Gemeinschaft ist allerdings die wechselseitig anerkannte Unabhängigkeit ihrer Glieder. Die Wissenschaft hat die Aufgabe, die Normen anwendbar zu machen, indem sie sie aufdeckt und erklärt - was offenbar eindeutig möglich ist. Naturrecht: Für die Aufklärer das mittels reiner Vernunft nach wissenschaftlichen Methoden aus der Natur des Menschen abgeleitete Recht. (Modernes Naturrecht)

"Die Nationen oder Staaten sind politische Körper, Gemeinschaften von Menschen, die sich zusammengeschlossen haben, um mit vereinten Kräften für ihre Wohlfahrt und ihren Nutzen zu sorgen.

Eine solche Gemeinschaft hat eigene Angelegenheiten und Interessen, sie berät und beschließt gemeinsam. Dadurch wird sie zu einer "persona moralis", die eigenen Verstand und Willen besitzt, die rechtsfähig ist.

[…] Das Völkerrecht ist die Wissenschaft von dem zwischen den Nationen oder Staaten geltenden Recht und den Verpflichtungen, die diesem Recht entsprechen. […] Es ist also nötig, dass sich eine Nation über ihre Verpflichtungen unterrichtet, nicht nur um zu verhindern, dass sie gegen ihre Pflicht verstößt, sondern auch um sich in die Lage zu versetzen, mit Sicherheit ihre Rechte, d. H. das, was sie rechtmäßig von anderen verlangen kann, zu erkennen.

[…]

Das auf die Nationen angewandte Naturrecht nennen wir notwendiges Völkerrecht. [...] Für sie ist es nicht weniger verpflichtend als für Einzelwesen, denn die Staaten sind aus Menschen zusammengesetzt, ihre Beschlüsse werden von Menschen getroffen und schließlich unterliegen alle Menschen dem Naturrecht, in welcher Beziehung sie auch handeln.

[…]

Da also das notwendige Völkerrecht aus dem auf die Nationen angewandten natürlichen Recht besteht, das selbst unveränderlich ist, weil es sich auf die Natur und insbesondere auf die Natur des Menschen gründet, folgt hieraus, dass das notwendige Völkerrecht unveränderlich ist.

[…]

Da es das Ziel der natürlichen unter allen Menschen geschaffenen Gemeinschaft ist, dass sie sich wechselseitige Hilfe zu ihrer eigenen Vervollkommnung und zur Verbesserung ihres Zustandes leisten, und da die Nationen vermöge ihrer Gleichstellung mit im Naturzustand lebenden freien Personen verpflichtet sind, untereinander diese menschliche Gemeinschaft zu pflegen, so ist das Ziel dieser großen, von der Natur unter allen Nationen geschaffenen Gemeinschaft ebenfalls eine gegenseitige Unterstützung der Nationen zu ihrer eigenen Vervollkommnung und zur Verbesserung ihres Zustandes.

[…]

Die Nationen sind frei und unabhängig, da die Menschen von Natur aus frei und unabhängig sind. Also ist es das zweite Grundgesetz der Gemeinschaft, dass jede Nation im friedlichen Genuss dieser ihr von der Natur verliehenen Freiheit gelassen werden muss. Die natürliche Gemeinschaft der Nationen kann nicht bestehen, wenn die Rechte, die jede einzelne Nation von der Natur erhalten hat, nicht geachtet werden. Keine will auf die Freiheit verzichten; sie würde eher jede Verbindung mit allen abbrechen, die es unternehmen, diese Freiheit anzutasten.

[…]

Da die Menschen von Natur aus gleich sind und ihre Rechte und Verpflichtungen dieselben sind, zumal wenn sie ihren Ursprung in der Natur haben, sind die aus Menschen zusammengesetzten Nationen, vermöge ihrer Gleichstellung mit freien, im Naturzustand zusammenlebenden Personen, von der Natur her gleich und beziehen von ihr die gleichen Verpflichtungen und Rechte. Stärke und Schwäche machen in dieser Hinsicht keinen Unterschied. Ein Zwerg ist ebenso ein Mensch wie ein Riese. Eine kleine Republik ist nicht weniger ein souveräner Staate als das mächtigste Königreich.

[…]

Diese drei Völkerrechtsarten - freiwilliges Recht, vertragliches Recht, Gewohnheitsrecht - bilden zusammen das positive Völkerrecht. Sie entstehen alle aus dem Willen der Nationen; das freiwillige Recht aus ihrem vermuteten, das vertragliche Recht auf ihrem ausdrücklichen und das Gewohnheitsrecht auf ihrem stillschweigenden Einvernehmen."