Johann Christoph Adelung: Pragmatische Staatengeschichte Europas von dem Ableben Kaiser Carls 6 an bis auf die gegenwärtigen Zeiten […], Bd. 1, Gotha 1762, S. 339ff.

Adelung (1732-1806), Sprachforscher, Publizist und Beamter, schließt sich hier der Kritik des Gleichgewichts im Geiste G. Justis an ("Die Chimäre des Gleichgewichts von Europa", 1749). Der statische Gleichgewichtsgedanke erscheint insbesondere durch die im Rahmen der Aufklärung erhoffte Dynamisierung der inneren Verhältnisse entwertet. Gewinn ist für die Aufklärer nicht mehr nur noch auf Kosten anderer möglich, der allgemeine Wohlstand soll durch innere Entwicklung der Staaten gefördert werden. Die Gleichgewichtslehre steht aber der inneren Entwicklung der Staaten im Wege. Gezielte Gleichgewichtspolitk ist für Adelung kein Ergebnis der Machtverteilung in Europa, sondern des Denkens der Entscheidungsträger und somit reversibel. Die Schrift erscheint während des Siebenjährigen Krieges, als erstmals die traditionellen Kontrahenten Frankreich und Österreich eine Allianz eingehen (Renversement des Alliances).

"Die Übermacht derjenige Reiche, welche sich seit mehr als zweien Jahrhunderten an der Spitze der europäischen Händel befunden haben, hat die übrigen Staaten vom zweiten Range stets um ihre Freiheit besorgt gemacht, und die herrschenden Mächte sind sehr vorsichtig gewesen, einander wechselweisen den gehässigen Einwurf einer Universalmonarchie aufzubürden, ein Entwurff, welcher vielleicht unter die Hirngespinste der ersten Größe gerechnet zu werden verdienet. Eine geraume Zeit lang waren Frankreich und Oesterreich die einigen Mächte, […] denen man also an der Ausführung dieses ihnen beigemessenen Planes hinderlich fallen muste; und was war wohl leichter, als die Mittel dazu ausfindig zu machen? Man wuste die zwischen beide Häuser herrschende Eifersucht auf das Geschickteste zu unterhalten, und durch den Beistand, welchen man dem schwächern Theil angedeihen ließ, suchte man die völlige Überwältigung desselben zu hindern, damit er niemals außer Stand gesetzt werden möchte, der andern mächtigen Parthey furchtbar zu werden. Aus dieser Art zu verfahren ist das so berühmte Lehrgebäude von dem Gleichgewicht in Europa entstanden; ein Lehrgebäude, welches unendlich viele blutige Kriege erreget und noch mehr schlechte Staatskünstler gebildet hat, weil sich ihre ganze Staatskunst nunmehr auf ein einziges Wort einschränken lies.
[…]
Man stellte sich Europa als eine große Waage und diese zwei Häuser als die zwei Schalen derselben vor, woran sich die übrigen Staaten bald auf der einen, bald auf der anderen Seite anhängeten, nachdem eine derselben das Uebergewicht zu bekommen schien […]. Seitdem aber mehrer Staaten in Europa zu einer Art des Uebergewichts gelanget sind, welche desto furchtbarer war, je weniger die Schritte, durch welche sie zu demselben gelangeten, in die Augen fielen, und je mehr ihre Macht und ihr Ansehen wuchsen nicht sowohl durch grosse Eroberungen und einen in die Augen fallenden Zuwachs weitläufiger Länder, als vielmehr durch eine innere weise Verfassung, die sich dem Gipfel der Vollkommenheit näherte: So ist auch dieser erste Begriff plötzlich verschwunden, und seit dieser Zeit verstehet man unter dem Gleichgewicht von Europa nichts anders, als diejenige beständige Regel des Krieges und Friedens, nach welcher man beständig zu verhindern sucht, das kein Reich zu einem solchen Grad der Macht und des Ansehens gelange, der der Unabhängigkeit und Freiheit der übrigen Staaten gefährlich seyn könne.

[…]

Besteht nicht in dieser weisen und vollkommenen Regierung die wahre Macht eines Staates? Und ist es gerecht, denselben, wenn er sich ihrer nicht misbraucht, daran durch gewaltthätige Mittel zu hindern? Und wenn auch die Staatskunst Ursachen genug hätte, dieses Unternehmen gerecht zu preisen, ist es auch, im ganzen betrachtet, auszuüben möglich? […] Nach unzähligen blutigen Kämpfen würde endlich eine gleiche Verzehrung der Kräfte sie [die europäischen Staaten] auf das lebhafteste von der Unmöglichkeit ihres Unternehmens überzeugen."