6.2. Von der vormodernen zur modernen Verfassung

6.2.1. Vom ständischen Protest zur Revolution

Im späten 18. Jh. entwickeln sich aus ursprünglich ständisch-konservativen, auf Privilegienwahrung der Elite zielenden Widerstandsbewegungen gegen die jeweilige Reformpolitik der Krone neuartige, allgemeine bürgerliche Partizipationsbewegungen, die auf Überwindung der traditionalen Ständeverfassung zielen, so z.B.

  • in den habsburgerischen Niederlanden, 
  • in Ungarn, 
  • Patriotenbewegung in den vereinigten Niederlanden, 
  • Revolution in Lüttich, 
  • Parlamentsreformbewegung in England; 
  • schließlich Revolution in Frankreich.

Wichtigstes Vorbild ist der amerikanische Unabhängigkeitskrieg gegenüber der englischen Krone (1775-1783), in dessen Verlauf man sich erstmals auf universelle Menschenrechte beruft und den Einzelstaaten moderne Verfassungen gibt. 

6.2.2. Moderne vs. ständische Verfassungen

Kennzeichen moderner Verfassungen gegenüber den hergebrachten ständischen Herrschaftsverträgen: nach rationalem Entwurf geschriebene, systematisch aufgebaute Verfassungen, höherrangig als Gesetzesrecht, die das Verhältnis zwischen Staatsgewalt und Bürgern als Privatleuten definiert und die Organisation der Staatsgewalt regelt (statt akkumulierten Bestandes an Herrschaftsverträgen und Gewohnheitsrecht); gesetzliche Verankerung universeller unveräußerlicher Menschenrechte; allgemeine bürgerliche Rechtsgleichheit der männlichen Eigentümer; politisches System auf der Grundlage von Volkssouveränität, Gewaltenteilung und parlamentarischer Repräsentation.

Für die Zeitgenossen waren Alt und Neu nicht so leicht auseinander zu halten: Verteidiger alter Privilegien berufen sich auf „Volksfreiheit“, objektiv neuartige Forderungen geben sich als Rückkehr zum guten alten Recht aus. Erst die Französische Revolution führt zu einer klaren Polarisierung.

6.2.3. Der Weg in die Revolution am Beispiel Frankreichs

Es treffen verschiedene Faktoren zusammen, die zum Ausbruch der Revolution führen. Hierzu zählen:

  • eine totale staatliche Finanzkrise (Überschuldung der Krone, Offenlegung durch den Finanzminister Necker, kein Staatskredit mehr)
  • Legitimationsverlust der Staatsgewalt nach verschiedenen gescheiterten Reformexperimenten
  • gesteigerte öffentliche Kritik an der Hofgesellschaft in einer massenhaft verbreiteten Untergrundliteratur (Vorwürfe sind sexuelle Libertinage, Verschwendung, dabei religiöse Intoleranz etc.)
  • Widerstand der bürgerlich-amtsadeligen Eliten gegen Modernisierungspolitik insbes. in Justiz, Provinzverwaltung und Steuerwesen
  • schließlich eine witterungsbedingte Hungerkrise, die die Aufstandsbereitschaft der Massen fördert

Die Einberufung der althergebrachten Generalstände schlägt in eine Verfassungsrevolution um, als deren Verfahrensmodus radikal im Sinne einer Nationalrepräsentation verändert wird. In der Folge entfaltet das Geschehen eine eigene Dynamik und lässt sich nicht mehr aus den strukturellen Ursachen erklären, die zum Ausbruch der Revolution geführt haben.