1.3. Ehe und Sexualität

von Christina Rolf

Sexualität ist ebenso wenig eine anthropologische Konstante wie der menschliche Körper oder die Wahrnehmung des Geschlechtsunterschiedes, mit denen sie eng verknüpft ist; vielmehr sind auch die Vorstellungen und die Wahrnehmung von Sexualität geschichtlich gewachsen und dem historischen Wandel unterworfen. Im Unterschied zur animalischen ist die menschliche Sexualität nicht an die „Periodizität des Geschlechtstriebs“ (Mitterauer/Sieder, Patriarchat, 144) gebunden und nicht zwangsläufig mit Fortpflanzung gekoppelt, sondern lenk- und kontrollierbar. Die Lenk- und Kontrollierbarkeit – sowohl die selbst- als auch die fremdbestimmte – nahm in der FNZ verschiedenste Formen an. Dabei trafen ganz unterschiedliche Normensysteme aufeinander: Abgesehen vom medizinischen Diskurs strebten weltliche und kirchliche Obrigkeit nach einer strengeren Reglementierung des Sexualverhaltens, des ehelichen und familialen Lebens und nach der Bindung der Sexualität an die Institution Ehe. Deren Wertvorstellungen konnten allerdings von der alltäglichen Praxis in den Dörfern und/oder Gemeinden mehr oder weniger stark abweichen. Die zum Teil erheblichen regionalen Differenzierungen machen allgemein gültige Aussagen unmöglich. Dennoch sind generelle Tendenzen erkennbar, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen.

1.3.1. Der Zusammenhang von Ehe und Sexualität

von Christina Rolf

Die Institution Ehe war sowohl im Mittelalter als auch in der Frühen Neuzeit unmittelbar an die Sexualität geknüpft: Erst der Vollzug des Geschlechtsverkehrs zwischen den Partnern verwandelte das Eheversprechen in eine rechtsgültige Ehe; die praktizierte Sexualität machte eine Ehe also überhaupt erst zu einer Ehe.

1.3.1.1. Die hochmittelalterliche Sexualmoral

Bereits im Hochmittelalter definierte die zeitgenössische Sexualmoral die nun offiziell zum Sakrament erklärte Ehe ausschließlich über die Fortpflanzung, die Zeugung und Aufzucht von Nachkommen, zu der sich die Ehepartner wechselseitig verpflichteten. Innerehelicher Geschlechtsverkehr bezog seine Legitimation also allein aus dem biblischen Auftrag „Seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen. 1, 28).

Praktiken, die ausschließlich der Bedürfnisbefriedigung dienten und die Fortpflanzung be- oder verhinderten – also prinzipiell alle Abweichungen von der als einzig richtig, fruchtbar und natürlich angesehenen Missionarsstellung – galten demnach als ebenso sündhaft wie außerehelicher Geschlechtsverkehr. Jedoch stellte dieses Werte- und Normensystem ein Ideal dar, von dessen strikter Befolgung niemand ernsthaft ausging: Vielmehr rechnete die Kirche fest mit der Sündhaftigkeit der Menschen und stellte vielfältige Möglichkeiten zur Buße und zur Erlangung von Wiedergutmachung und/oder Dispensen bereit. Heimliche Verlöbnisse (Matrimonia clandestina) oder so genannte ‚Winkelehen’, die ebenfalls heimlich geschlossen und lediglich durch das wechselseitige Versprechen der Partner, den Austausch eines Pfandes (z.B. eines Rings) und den Geschlechtsakt vollzogen wurden, konnten zwar von der Kirche nicht kontrolliert werden, waren aber dennoch rechtsgültig. Allerdings zeitigten sie auch etliche Streitfälle und Rechtsunsicherheiten: etwa bei Bruch des Eheversprechens, bei Unklarheiten über eine eheliche bzw. uneheliche Geburt und daraus resultierenden konkurrierenden Erbansprüche etc.

1.3.1.2. Normenwandel nach 1500

Ab 1500 etwa sahen sich sowohl weltliche als auch geistliche Obrigkeiten (zunächst nur die protestantischen, später auch die der alten, katholischen Kirche) verstärkt mit der Notwendigkeit einer Neubewertung und stärkeren Normierung der Ehe konfrontiert. Durch entsprechende Erlasse und Anordnungen im Zuge von Reformation bzw. Konfessionalisierung wurde die Ehe als Schwelle für die Ausübung legitimer Sexualität etabliert. Dieser Normenwandel wirkte sich nicht nur auf das Eherecht, sondern auch auf das Eheverständnis und das Geschlechterverhältnis aus. Die Ehe verlor im protestantischen Verständnis zwar ihren Sakramentscharakter (den sie in der katholischen Kirche behielt), erfuhr hier aber insgesamt eine Höherbewertung als „erster Ordnung Gottes“. Luther erkannte den Geschlechtstrieb des Menschen als etwas Natürliches an, den lediglich Impotente, Kastraten oder die wenigen begnadeten Asketen nicht verspüren konnten. Die Ehe sollte auf der wechselseitigen Treue der Ehepartner basieren, welche sich weiterhin der Fortpflanzung und Aufzucht von Nachkommen verpflichteten. Die allgemein zu verzeichnende Aufwertung der Ehe darf also nicht vorschnell mit einer Individualisierung der Sexualität oder einer größeren sexuellen Selbstbestimmung verwechselt werden.

Die rechtliche Zuständigkeit für die Institution Ehe fiel sowohl an die weltlichen als auch an die kirchlichen Behörden, die ihren Einfluss und ihre Kontrolle durch zahlreiche Ehe- und Kirchenordnungen verschärften. Verlöbnis und tatsächliche Eheschließung werden nun strikt voneinander getrennt. Der Ehekonsens wird im Rahmen einer öffentlichen kirchlichen Trauung, die seit dem 17. Jh. die Rechtsgültigkeit einer Ehe konstituiert und der die Bestellung eines Aufgebots vorangehen muss, durch den Pfarrer erteilt. Die Ehe kann bei Ehebruch geschieden werden, der oder die Unschuldige darf sich wieder verheiraten. 

Zwar behielt die Ehe im katholischen Kirchenrecht ihren Status als Sakrament, aber auch hier wird die öffentliche kirchliche Trauung durch den Pfarrer und vor Zeugen verpflichtend. 

Der Vollzug der Ehe durch den Geschlechtsakt erfolgt erst nach dem offiziellen kirchlichen Ritus. 

Um die ökonomische Ordnung und die gerechte Erhaltung und Verteilung der Ressourcen zu gewährleisten, waren weltliche und geistliche Gewalt darum bemüht, strengere sexuelle, familiale und eheliche Verhaltensnormen durchzusetzen; deren gemeinsamer Grundbestand wurde in Form von Predigten, Traktaten, Ehespiegeln, der Hausväterliteratur etc. publiziert.

Damit wurde die „Eheschließung [...] endgültig der kirchlichen Kontrolle unterworfen, das Monopol der Ehe als alleiniger Ort legitimer Sexualität gefestigt“; die öffentliche kirchliche Trauung vor Zeugen, die Einsegnung durch den Priester/Pfarrer „markierte die entscheidende Grenze zwischen ‚legitim’ und ‚illegitim’ und wandte sich gegen eine populäre Tradition, die mehr Gewicht auf die Verlobung legte, als auf die Zeugenschaft und den Segen des Geistlichen.“ (Beck, Illegitimität, 125).

Diverse obrigkeitliche Erlasse und Mandate verzeichneten regelrechte Bußkataloge, in denen peinlich genau die Strafbestimmungen für Vergehen wie ‚Leichtfertigkeit’ (d.h. Geschlechtsverkehr unter Ledigen) etc. festgehalten wurden.

1.3.2. Obrigkeitliche Norm – alltägliche Praxis

von Christina Rolf

1.3.2.1. Die Forderung nach vorehelicher Enthaltsamkeit...

Angesichts des massiven Kontrollbedürfnisses seitens der Obrigkeit stellt sich die Frage, inwiefern Norm und Realität miteinander übereinstimmten. In verschiedenen Arbeiten (Beck, Illegitimität, 1983; Burghartz, Zeiten, 1999; dies., Jungfrauen, 1992) konnte gezeigt werden, dass obrigkeitliche Wertvorstellungen hinsichtlich einer fest an die Institution Ehe zu bindenden Sexualität mit den etwa in dörflichen Gemeinden etablierten Regelsystemen nur bedingt in Einklang zu bringen sind. Besonders deutlich lässt sich diese Differenz zwischen Norm und Realität am Beispiel des vorehelichen Geschlechtsverkehrs bzw. der obrigkeitlichen Forderung nach strikter Enthaltsamkeit vor der Ehe darstellen.

So konstatiert etwa Rainer Beck angesichts des relativ hohen Heiratsalters im Europa des 17. und 18. Jh.s (geheiratet wurde zwischen dem 25. und dem 30. Lebensjahr oder später, häufig auch gar nicht; Das „europäische Heiratsmuster“): „Das obrigkeitliche Bemühen um die Durchsetzung vorehelicher Enthaltsamkeit erscheint vor dem Hintergrund der spezifischen Lage der Unverheirateten dieser Zeit zunächst paradox.“ (Beck, Illegitimität, 118).

Eine strikte Durchsetzung vorehelicher Enthaltsamkeit konnte nicht erreicht werden; vor allem in der ländlichen Gesellschaft, in den Dörfern und Gemeinden, ergaben sich für ledige junge Männer und Frauen anlässlich der verschiedensten Kirchweih- und Dorffeste zahlreiche Gelegenheiten, in Kontakt zum anderen Geschlecht zu treten und ‚anzubändeln’.

1.3.2.2. ...und die traditionellen Formen der Eheanbahnung

Traditionelle Formen der Eheanbahnung – wie Gadensteigen, Fensterln oder das so genannte „Probeliegen“ (vorehelicher Geschlechtsverkehr, bei dem die Frau auf ihre Fruchtbarkeit geprüft wurde, bei ‚geglückter’ Schwangerschaft erfolgte dann Hochzeit) etc. – waren vielerorts noch üblich. Es handelte sich dabei um Rituale, die nach ganz bestimmten Regeln abliefen und die von der Dorfgemeinschaft innerhalb dieser Regeln anerkannt und respektiert wurden. Vor dem Hintergrund einer relativ geringen Anzahl unehelich geborener Kinder ist jedoch unklar, ob es dabei überhaupt immer zum vorehelichen Geschlechtsverkehr kam, oder ob andere (sexuelle) Praktiken, wie ‚lediglich’ das Bett miteinander zu teilen, im Vordergrund standen. Doch stellte auch der voreheliche Geschlechtsverkehr sowie daraus eventuell resultierende Schwangerschaften unter bestimmten Umständen – nämlich i.d.R. dann, wenn die ‚Betroffenen’ bald danach heirateten – kein Problem dar.

Entscheidend war demnach nicht, dass junge Frauen und Männer bis zu ihrer Hochzeit in völliger Enthaltsamkeit lebten, sondern dass vorehelicher Geschlechtsverkehr und/oder eine ‚außerplanmäßige’ Schwangerschaft durch eine Ehe oder auch nur dadurch, dass sich der jeweils betroffene Vater zu Frau und Kind bekannte, quasi nachträglich legitimiert werden konnten (vgl.  Burkhartz, Jungfrauen, 175). Somit war „die Praxis vorehelicher Beziehungen in der alten Gesellschaft [...] eingebunden in ein internes Regelsystem, welches funktional für die soziale und ökonomische Stabilität der Gemeinschaft war.“ (Benker, Ehre, 11).

1.3.3. Sexualität, Ökonomie und spezifisch weibliche Ehre

von Christina Rolf

Aufgrund des Umstandes, dass die Ehe in der FNZ die Basis häuslichen Wirtschaftens darstellte, waren Sexualität und Ökonomie unmittelbar aufeinander bezogen und miteinander verknüpft. Dabei ist allerdings nicht davon auszugehen, dass, wie Max Weber es formulierte, die Sexualbeziehungen des Menschen die Basis „eines ‚spezifisch ökonomischen Verbandes’ der Hausgemeinschaft bzw. des Haushalts“ (Mitterauer/Sieder, Patriarchat, 146) bilden, sondern dass sie vielmehr als eine „Folgeerscheinung der wirtschaftlich vernünftigen und notwendigen Heirat oder ebenso der wirtschaftlich bedingten Unmöglichkeit der Heirat“ (Mitterauer/Sieder, Patriarchat, 146) aufzufassen sind.

In neueren Arbeiten wird der Zusammenhang von Sexualität und Ökonomie als Tauschbeziehung dargestellt, die außerdem enge Verbindungen zu einem spezifisch weiblichen Ehrkonzept aufweist: Hier wird der gute Ruf, die Ehre und damit verbunden die intakte Jungfräulichkeit einer ledigen Frau als deren soziales Kapital begriffen, welches es innerhalb sexueller Beziehungen in handfestes materielles Kapital – nämlich die mit einer Eheschließung verbundenen Versorgungsleistungen – umzusetzen galt. In diesem Zusammenhang erscheint die Sexualität weniger als Selbstzweck denn als „Mittel zum Zweck“ (Benker, Ehre, 16f.). 

In der zeitgenössischen Wahrnehmung war die Jungfräulichkeit einer Frau unmittelbar an ihre Ehre geknüpft und wurde gleichsam zu einem Handelsgut: Die Jungfernschaft wurde eingetauscht gegen das Heiratsversprechen und die konkret daraus erwachsenden Versorgungsansprüche. Besonders deutlich wird dieser „Warencharakter“ weiblicher Ehre und Jungfernschaft bei missglückten Tauschgeschäften. Wurde ein Eheversprechen vom Mann nicht eingelöst und/oder kam es nach dem vorehelichen Geschlechtsverkehr zu einer Schwangerschaft, so forderten die betroffenen Frauen häufig vor Gericht eine finanzielle Entschädigung (die Summen konnten sich, je nach Tathergang und Stand der jeweils Beteiligten auf einige Monats- oder gar Jahreslöhne belaufen), beteuerten, sie hätten dem Geschlechtsverkehr nur aufgrund des zuvor vom Mann gegebenen Heiratsversprechens zugestimmt und versuchten vielfach, die Einlösung des Eheversprechens einzuklagen. Je nach Stadt und/oder Region hatten sie damit mehr oder weniger Erfolg.

Der Verlust der Jungfräulichkeit vor der Ehe musste aber nicht immer automatisch auch den Verlust der Ehre bedeuten. Die Zusammenhänge zwischen Sexualität, Ökonomie und Ehre gestalteten sich sehr viel komplexer; wichtig sind die jeweiligen sozialen Zuschreibungen: Zwar sanken mit dem Verlust der Jungfräulichkeit und damit einhergehend der spezifisch weiblichen Ehre potenziell die Chancen auf dem Heiratsmarkt, doch bestand etwa die Möglichkeit, diesen Verlust durch entsprechende finanzielle Entschädigungsleistung des betroffenen Mannes auszugleichen und so die „Einbuße an Heiratschancen“ (Burkhartz, Jungfrauen, 178) wettzumachen und die Ehre der Frau wieder herzustellen. Die Einlösung des Eheversprechens durch den Mann war dazu nicht zwangsläufig nötig.

Die Ehre und der gute Ruf einer Frau „scheint also davon abhängig gewesen zu sein, dass sie es verstand, den Preis für die ‚gestattete Sexualität’, d.h. die Leistung ökonomischer und sozialer Sicherheiten seitens des Mannes zu realisieren.“ (Benker, Ehre, 16).

Die weibliche Ehre war somit in einem sehr viel stärkeren Maße als die männliche an den weiblichen Körper geknüpft, wobei den jeweiligen sozialen Zuschreibungen eine mindestens ebenso wichtige Position zukommt. Es handelt sich beim weiblichen Ehrkonzept der FNZ also nicht um ein „rein körperliches Konzept“; vielmehr wird es „von der Wahrnehmung durch das soziale Umfeld mit definiert.“ (Dinges, Ehre, 137).

1.3.4. Veränderte Wahrnehmung im 17. und 18. Jh.

von Christina Rolf

Im Zuge neuerer medizinischer und biologischer Erkenntnisse und der Etablierung der Anthropologie als neuer Wissenschaft wird im 17. und v.a. im 18. Jh. der Geschlechterunterschied immer stärker betont und schließlich zu einem polaren Gegensatz stilisiert (Polarisierung der Geschlechterrollen). Aus der unterschiedlichen biologischen Rolle beim Fortpflanzungsgeschehen wurden Geschlechterunterschiede als „natürlich“ abgeleitet: Der Mann erschien in diesem Zusammenhang als der vernunftbegabte, aktive Teil, die Frau hingegen als der passive, einfühlsame, was sich entscheidend auf die zeitgenössische Wahrnehmung und auf das Verständnis von Sexualität auswirkte.