6.4. Gemeinsame kulturelle Werte und Praktiken

Gemeinsam ist allen diesen Gruppen, dass sie ihren Status in erster Linie der eigenen Ausbildung und Arbeit verdanken. Dies führt zur Entwicklung einer gemeinsamen „Mentalität“ in Abgrenzung zum Hofadel und zum „gemeinen Volk“ durch Bildung, kulturelle Praktiken und Wertvorstellungen. Diese Mentalität beschränkt sich nicht allein auf den Gelehrtenstand, sondern kennzeichnet gerade auch stadtbürgerliche Gruppen wie Kaufleute, Unternehmer, aber auch Teile des Adels. Diese „normsetzenden Schichten“ suchen ihre neuen Werte und Verhaltensweisen im 18. Jh. zunehmend offensiv den anderen sozialen Gruppen zu vermitteln; sie verstehen sie nicht mehr als ständische, sondern als universelle Normen.

6.4.1. Ökonomische Prämissen

Ökonomische Nützlichkeit wird der Maßstab des Handelns:

  • Hochschätzung von Arbeitsamkeit und Fleiß als Tugenden um ihrer selbst willen
  • Sparsamkeit statt demonstrativer Verschwendung
  • strenge Zeitökonomie
  • langfristige Planung des ökonomischen „Fortkommens“

(Umstrittene Max-Weber-These: Ökonomische Rationalität durch protestantischen Berufsbegriff und Prädestinationslehre bestärkt; ökonomischer Erfolg als Indiz für religiöse Erwählung; Arbeitsdisziplin religiös überhöht.)

6.4.2. Verhaltensstil

Eine entsprechende Nüchternheit des Verhaltensstils folgt:

  • Tugend der Bescheidenheit
  • Ablehnung von Luxus in Kleidung, Nahrung, Wohnung
  • größere Einfachheit im Umgang etc.

Der unzeremonielle Verhaltensstil wird seit dem 18. Jh. als „Natürlichkeit“ und „Empfindsamkeit“ dem aristokratisch-höfischen Verhaltensstil gegenübergestellt (Rousseau-Rezeption, verstärkte Hofkritik). Das „bürgerliche“ England löst das „höfische“ Frankreich als kulturelles Vorbild ab.

6.4.3. Geselligkeitsformen

Frei eingegangene Bindungen („Freundschaft“) ersetzen die Bindungen von Stand und Korporation; Bildung tritt als neues Ausschlusskriterium an die Stelle der Geburt. „Patriotische“ und „gemeinnützige“ Sozietäten, Lesegesellschaften, Freimaurerlogen etc. sind spezifische Geselligkeitsformen der neuen ständeübergreifenden Eliten seit dem 18. Jh. (Aufklärung), im Gegensatz zu ständisch exklusiven, korporativen Formen der Geselligkeit (z.B. Zunft- und Herrentrinkstuben).

6.4.4. Liebe, Ehe, Familie

Während das vormoderne „ganze Haus“ durch die Einheit von Wirtschaften und Leben gekennzeichnet war und das Ehepaar ein „Arbeitspaar“ bildete (z.B. als Bauern-, Handwerker-, aber auch Amtspaar), kommt es im Bildungsbürgertum tendenziell zur Trennung von Erwerbsarbeit und Hausarbeit; d.h. Frau und Kinder werden von der außerhäuslichen Erwerbsarbeit des Mannes ferngehalten und in eine idealisierte private „Intimsphäre“ als Rückzugsort von den Zwängen des Erwerbslebens verbannt. Die bürgerliche Kernfamilie distanziert sich zunehmend vom Gesinde. Die Hausfrauenrolle wird von Teilhabe an der wirtschaftlichen Produktion tendenziell entlastet und auf Sorge für Mann und Kinder reduziert. Liebe wird aufgewertet und zum Kern der Ehe erhoben, tendenziell die freie Wahl des Ehepartners propagiert. Gegenüber den Sexualnormen des Hofadels und des „Pöbels“ wird eine strengere sexuelle Kontrolle propagiert (Verbot vorehelichen Geschlechtsverkehrs). Die Erziehung der Kinder wird zur programmatischen Aufgabe.

6.4.5. Bildung als neue „Religion“

Die Bildung, der die neue Elite ihren sozialen Aufstieg verdankt, wird im 18. Jh. überhöht und als „Menschenbildung“ zum universellen Wert erhoben. Ideal ist die allseitige Ausbildung des Individuums zu stetig fortschreitender Vollkommenheit; Selbstbildung statt äußeren Zwangs soll die Autonomie des Subjekts begründen.