1. Okzidentaler Rationalismus

1.1. Grundlagen

Max Weber (1864-1920) war einer der bedeutendsten Kultursoziologen des 20. Jahrhunderts. Seine Theorien zur Entstehung der modernen Welt haben die Geschichtswissenschaft maßgeblich beeinflußt.

Weber geht von dem wechselseitig aufeinander bezogenen sinnhaften, grundsätzlich rationalen Handeln der Einzelnen aus und beschreibt, wie daraus komplexere Formen gesellschaftlicher Ordnung entstehen. Herrschaft ist definiert als „Chance, bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden“. Dazu bedarf sie der Legitimitätsgeltung. 

Er unterscheidet drei Typen legitimer Herrschaft:

  1. rationale Herrschaft beruht auf „Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen“,
  2. traditionale Herrschaft auf „Glauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen“,
  3. charismatische Herrschaft auf „außeralltäglicher Hingabe an die Heiligkeit, Heldenkraft oder Vorbildlichkeit einer Person“.

1.2. Okzidentaler Rationalismus

Im Laufe der FNZ setzt sich in Mitteleuropa die „rationalste“, d.h. den jeweiligen Zweck am vollkommensten erfüllende Form der Ordnung durch. Herrschaft wird gesteigert zur „Disziplin“, d.h. „die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam“ zu finden (Militär, Fabrik).

Rationale Ordnung kennzeichnet sowohl den ökonomischen Großbetrieb der kapitalistischen Privatwirtschaft als auch die bürokratische Verwaltung des modernen Anstaltsstaats.

Kennzeichen sind:

  • Ordnung als Kosmos abstrakter, absichtsvoll gesatzter Regeln;

  • Versachlichung der Herrschaftsbeziehungen.

Voraussetzung dafür ist die Trennung der Personen (Arbeiter, Beamte) von den sachlichen Betriebsmitteln.

1.3. Protestantische Ethik und Geist des Kapitalismus

In seiner Religionssoziologie stellt Weber den Prozess der Rationalisierung in einen Zusammenhang mit dem Wandel der religiösen Überzeugungen seit der Reformation. Der „Geist des Kapitalismus“ ist nach Weber durch das methodische Streben nach immer erneutem Gewinn geprägt, das seinerseits in die Kultur einer methodischen Lebensführung eingebettet sei. Die Lehren des asketischen Protestantismus (Calvinismus, Pietismus, Methodismus, Täufer) seien einer methodischen Lebensführung besonders förderlich. Denn: Nach calvinistischer Prädestinationslehre ist der Gnadenstand jedes Menschen bereits im Schöpfungsplan festgelegt. Das Vollbringen guter Werke ist nicht mehr Heilsmittel, sondern selbst bereits Ausdruck des Gnadenstandes. Angesichts der Ungewissheit über den eigenen Gnadenstand („Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums“) üben Gläubige über sich eine systematische Selbstkontrolle aus, denn nur die permanente vorbildliche Lebensführung (einschließlich beruflichen Erfolgs) ist Zeichen der Zugehörigkeit zu den Auserwählten.

Innerweltliche Askese: Bereits mittelalterliche Mönchsorden kannten außerweltliche Askese als systematisierte Lebensführung mit planvoller Selbstkontrolle und Verzicht auf Triebbefriedigung. Askese zielt hier auf den heilsmäßigen Status mittels Überbietung der innerweltlichen Sittlichkeit. Durch die lutherische Berufsethik und die calvinistische Prädestinationslehre wird die asketische Lebensführung in die Alltagswelt hineinverlagert und sozial verallgemeinert.

1.4. Bewertung

Die empirische Basis von Webers Protestantismus-These gilt heute als dünn und spielt in der Forschung kaum mehr eine Rolle; ihr Studium ist v.a. historiographiegeschichtlich wertvoll. Webers Herrschafts- und Rechtssoziologie liegt hingegen den meisten neueren Theorien des Modernisierungsprozesses zugrunde (s.u.: Systemtheorie, Sozialdisziplinierungsthese) und hat v.a. die moderne Sozialgeschichte erheblich beeinflusst.