4.2. Strafrechtsentwicklung

4.2.1. Differenzierung des Strafrechts

Strafrecht differenziert sich erst allmählich seit dem Spätmittelalter als eigener Bereich mit spezifischem Verfahren heraus und definiert Normbereiche, deren Verletzung so gravierend ist, dass die Obrigkeit den Anspruch erhebt, Sanktionen darüber zu verhängen. Die Hochgerichtsbarkeit (Leib und Leben betreffend) liegt seit jeher bei der Zentralgewalt; die Niedergerichtsbarkeit ist ursprünglich bei intermediären Herrschaftsträgern und autonomen Korporationen angesiedelt, wird aber in der FNZ zunehmend von der Zentralgewalt (landesherrliche Ämter) in ihre Kompetenz übernommen. Zentral im Reich ist die erste Strafrechts- und Strafprozessrechtskodifikation Kaiser Karls V. („Carolina“, Peinliche Halsgerichtsordnung = Reichsgesetz von 1532, das aber nur subsidiär gilt).

4.2.2. Akkusations- vs. Inquisitionsverfahren

Das ältere Prinzip des Akkusationsverfahrens bedeutet, dass ein privater Ankläger Klage erhebt (sonst findet kein Prozess statt) und mit Leib und Vermögen haftet. Die Verfahren finden mit beiden Parteien vor einem Laiengericht der Rechtsgenossen als Urteiler unter Vorsitz des Richters (Vertreter des Gerichtsherrn) statt. Es handelt sich um ein mündliches, öffentliches und unmittelbares Verfahren auf der Basis lokalen Gewohnheitsrechts. Zeugen der Parteien (Eideshelfer) werden eher als Sozialkapital (Bourdieu) aufgeboten als zur Wahrheitsfindung. Ziele sind die Konfliktregulierung durch Kompensation und die Wiederherstellung der gestörten Rechtsordnung (oft durch Talionsstrafen).

Das modernere Inquisitionsverfahren war zuerst als Sonderverfahren entstanden, übernommen aus dem kanonischen Recht (seit dem 13. Jh. entwickelt zur Ketzerbekämpfung). Ein obrigkeitlicher Ankläger, nicht eine Konfliktpartei, erhebt Klage ex officio im öffentlichen Interesse (Offizialprinzip), oft auf Denunziation, Gerücht oder Indizien hin, ermittelt (inquiriert durch Amtsträger, aber noch keine professionelle Polizei), verfolgt und verhaftet den Delinquenten. Ziel ist die Ermittlung der materiellen Wahrheit (Instruktionsprinzip), möglichst durch ein Geständnis, sonst durch Zeugen und den Einbezug von Sachverständigen. Zur Erzwingung des Geständnisses dient die (aus dem römischen Recht übernommene) Folter („peinliche Frage“). 

Das Verfahrens ist zweigeteilt in eine nicht-öffentliche, schriftlich protokollierte Untersuchung durch lokale Verwaltungsinstanzen und ein zentrales Entscheidungsverfahren durch eine Juristenfakultät oder ein Obergericht, wohin die Akten versandt werden und wo das Urteil gefällt wird. Die öffentliche Vollstreckung erfolgt auf dem „endlichen Rechtstag“. Aber auch hier besteht die Möglichkeit der Fürsprache, Begnadigung etc. 

In der Carolina und in der Praxis der Territorien bestehen noch lange gemischte Formen. 

4.2.3. Exempelstrafen und Sanktionsverzicht

Die frühneuzeitliche Strafrechtspraxis ist auf eine breite Strafverfolgung noch gar nicht ausgelegt. Der obrigkeitliche Rechtswahrungs- und Strafanspruch wird zwar mit grausamen Strafdrohungen unterstrichen („Theater des Schreckens“).

Aber: Nur wenige „Exempelstrafen“ werden tatsächlich verhängt und vollstreckt, vielmehr wird – wenn man den Täter überhaupt fängt – vielfach bewusst auf Sanktionen verzichtet (Fürbitten, Gnadenpraxis); Gnade ist Stärke, nicht Schwäche des Richters. 

Es existiert eine „Zweigleisigkeit“ der Sanktionspraxis: Entweder ist sie ausgerichtet auf Versöhnung, gütlichen Vergleich (gegen Entschädigung, Buße, Abbitte etc.) oder auf Strafe, Abschreckung und Ausgrenzung. 

Welche Richtung vorherrscht, ist u.a. abhängig auch von den Personen und Umständen (z.B. Einheimische/Fremde, Bedeutung sozialer Unterstützung).

Strafarten mit eher integrativem Charakter sind: 

  • Geld- und andere Bußzahlungen (z.B. Bierstrafen)
  • kurze Haftstrafen
  • öffentliche Kirchenbußen

Strafarten mit eher punitivem Charakter sind:

  • Stadtverweisung
  • Ehrenstrafen
  • Leib- und Lebensstrafen

Seit dem 17. Jh. entwickeln sich Ansätze zur modernen Zuchthaus- und Gefängnisstrafe. 

4.2.4. Wandel in der Aufklärung

Auf der Grundlage des vernunftrechtlichen Theorems vom Gesellschaftsvertrag formuliert der toskanische Jurist Cesare Beccaria eine neue Straftheorie: 

  • Trennung von Judikative und Legislative
  • Tendenz zu Generalisierung, Entpersonalisierung, Mechanisierung der Strafen (gleiche Delikte sollen immer gleich und ohne Ansehen der Person bestraft werden; wenig Ermessensspielraum für den Richter)
  • zugleich Milderung der Strafen: Milde sollen schon die Gesetze sein, nicht erst der Richter
  • Forderung nach Abschaffung von Folter, Schand-, Leibes- und Todesstrafen
  • Pädagogisierung der Strafen, die den Delinquenten bessern und der Gesellschaft nützen sollen (Zucht- und Arbeitshäuser)