4.2. Diplomatie
In der diplomatischen Praxis wird das Europäische Staatensystem sowohl praktisch wie auch symbolisch integriert, sie stellt den Zusammenhalt der Akteure der europäischen Politik sicher. Sie schafft damit wesentliche Voraussetzungen des gemeinsamen Umgangs und regelt seine Formen.
4.2.1. Verstetigung und Professionalisierung des diplomatischen Korps
(Literatur: Anderson, Diplomacy; Bély, L'Invention; Müller, Gesandschaftswesen)
4.2.1.1. Diplomatischer Verkehr
Im 17. und 18. Jh. kommt es zu einer allmählichen Verstetigung der diplomatischen Kontakte. Die Mächte richten ständige Vertreter an den anderen Höfen ein. Führend ist dabei Frankreich. Aufgaben der Vertreter sind das Sammeln von Informationen, die Beziehungspflege, Vorbereitung von Verhandlungen und Repräsentation der Souveräne auf der europäischen Bühne. (Zeremoniell) Das System ständiger diplomatischer Vertreter erlaubt die ständige gegenseitige Beobachtung und Interaktion aller wesentlichen Mächte. Das diplomatische Personal besteht aus Adeligen, die die höchsten Ränge besetzen, sowie bürgerlichen Juristen. Finanzierungsprobleme führen im Laufe des 18. Jh.s zu Problemen bei der Rekrutierung von Personal und lassen auch Versuche einer systematischen Ausbildung der Diplomaten scheitern.
Finanzielle Erwägungen sind auch mitverantwortlich für Lücken im System der ständigen Vertreter; auch Großmächte unterhalten untereinander nicht in jedem Fall ständige Gesandtschaften höchsten Ranges. (Funktionieren des Zeremoniells) Rang und Umfang der gegenseitigen Gesandtschaften sind aber auch ein Zeichen für den Zustand der jeweiligen Beziehungen.
Zahlreiche kleinere Mächte und insbesondere die Reichsfürsten sind mit dem Aufbau eines diplomatischen Dienstes überfordert. Und nur wer über einen solchen Apparat verfügt, kann wirkungsvoll an den internationalen Beziehungen teilnehmen.
Aber nicht nur innerhalb Europas grenzen sich über die Teilnahme am System ständiger diplomatischer Beziehungen die wesentlichen Akteure ab. Auch der Umfang Europas klärt sich in den diplomatischen Beziehungen. Rußland etabliert im ersten Drittel des 18. Jh.s feste diplomatische Kontakte mit den anderen Mächten. Mit dem osmanischen Reich kommt es hingegen bis ins 19. Jh. nicht zur Aufnahme regulärer gegenseitiger diplomatischer Beziehungen.
4.2.1.2. Bürokratisierung der Außenpolitik
In den jeweiligen Hauptstädten entsteht eine organisierte Bürokratie zur Bearbeitung außenpolitischer Fragen. Ihre Aufgabenbereiche sind allerdings nicht überall klar von inneren Angelegenheiten geschieden oder unter der Leitung eines einzelnen Ministers zentralisiert. Im Laufe des 18. Jh.s bilden sich spezialisierte Behörden und die Bürokratie wächst rasch an. Schon im 17. Jh. setzt eine Praxis systematischen Aktensammelns ein, in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s werden zentrale Archive eingerichtet. Allerdings sehen die Fürsten Außenpolitik nach wie vor als ihr exklusives Betätigungsfeld und verteidigen sorgfältig ihre Handlungsfähigkeit gegenüber den Behörden. Das äußert sich nicht zuletzt darin, daß sie jenseits des "Dienstweges" über Minister und Bürokratie direkt mit den Gesandten korrespondieren. Entscheidungen gegen den Rat des Beamtenapparats sind keine Seltenheit.
Die Kontakte zwischen der jeweiligen Hauptstadt und den Gesandten sind nicht unproblematisch; aufgrund der schlichten Dauer der Informationsübermittlung und weil geheime Übermittlung von Informationen äußerst schwierig ist, haben die Gesandten oft mehr Entscheidungsfreiheit als beabsichtigt.
4.2.2. Kongresse und Friedensschlüsse
Eine besondere Intensivierung der diplomatischen Kontakte erfolgt in Form großer Kongresse, Zusammenkünften von Diplomaten aus ganz Europa. Nach dem Vorbild des Friedenskongresses von Münster und Osnabrück etablieren sie sich zunächst im Anschluß an die Kriege, die Ludwig XIV. gegen verschiedene Koalitionen führt.
Parallel zur zunehmenden Internationalisierung aller Konflikte etabliert sich hier ein Mittel des Friedensschlusses, das berücksichtigt, daß Konflikte nur noch gesamteuropäisch zu lösen sind. Unter den durch diplomatische Kontakte vernetzten und an der balance of power orientierten Europäischen Mächten ist keine Veränderung der Machtverteilung mehr ohne Konsultation aller wichtigen Mächte möglich. (balance of power) Folglich versuchen bald alle Mächte, ihre Vertreter auf den Kongressen zu etablieren und ihre Anliegen vorzubringen. (Duchhardt)
Die Vorbereitung eines Kongresses beginnt durch inoffizielle Kontakte, die häufig schon zu Beginn eines Krieges einsetzen. Den Abschluß bilden Friedensverträge, die zumeist bilateral sind und für die sich allmählich feste Formen einbürgern. (Inhaltliche Probleme)
In den Jahren nach dem Spanischen Erbfolgekrieg, als auch die Regierungen noch stark von den Kriegsfolgen betroffen sind, werden Kongresse auch eingesetzt, um die Gefahr eines unmittelbar drohenden Krieges zu bannen. Das wird zwar nicht zur dauerhaften Praxis. Es nimmt aber einen Gedanken auf, der sich in der Friedenspublizistik entwickelt hat und das ganze 18. Jh. über ihr Hauptmotiv bleibt: die friedliche Lösung von Streitigkeiten durch eine Form von europäischer Versammlung. (Friedenspläne)
In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s verlieren die Kongresse allmählich an Bedeutung. Der Siebenjährige Krieg wird nicht mehr durch einen gesamteuropäischen Kongreß, sondern durch zwei getrennte Kongresse in Hubertusburg (mit den "Ostmächten") und Paris (mit den "Westmächten") beendet. Der Kongress von Teschen nach dem Bayerischen Erbfolgekrieg beschränkt sich auf das Absegnen zuvor bilateral ausgehandelter Ergebnisse.
4.2.3. Zeremoniell
4.2.3.1. Zeremoniell und Souveränität
Die Völkerrechtslehre postuliert die prinzipielle Gleichheit der souveränen Akteure und den grundsätzlichen Ausschluß aller anderen - der Untertanen - aus den internationalen Beziehungen. Tatsächlich fügen sich allerdings bei weitem nicht alle Herrschaftseinheiten in Europa in dieses dichtotmische Schema. Außerdem sind die Macht der Staaten, ihre rechtliche Qualität und die soziale Rolle der Fürsten unter den europäischen Potentaten in der Praxis noch keineswegs so ausdifferenziert, wie die Theorie es verlangt. Die universale und hierarchische Rangordnung der res publica christiania, der traditionellen Ordnung Europas mit Kaiser und Papst an der Spitze, verschwindet erst allmählich zugunsten eines Systems souveräner Staaten. (Souveränität)
Diese Verwandlung wird zu einem wesentlichen Teil im diplomatischen Zeremoniell vollzogen, dem System der außerordentlich aufwendigen und komplizierten Ehrbezeugungen, die sich die Diplomaten gegenseitig zukommen lassen. Ihnen wird eine großer Teil der Arbeit der Diplomaten und der bei weitem größte Teil des finanziellen Aufwands gewidmet. Sie sind keineswegs bloße Formalitäten oder Ergebnisse von Prunksucht, sondern ein wesentlicher Teil des politischen Handelns. (Stollberg-Rilinger)
4.2.3.2. Funktionieren des Zeremoniells
Das Zeremoniell erlaubt die für jedermann sichtbare Aufführung der Ordnung unter den europäischen Mächten und damit die Fixierung von Ansprüchen. Die grundsätzlich gewohnheitsrechtliche Struktur - erste Anspruchsgrundlage ist der sichtbare Besitz eines bestimmten Vorrechts bei vorhergehenden Anlässen - führt dabei gleichzeitig zu einer Logik der gegenseitigen Übertrumpfung wie zu einer tendenziellen Kontaktblockade.
Die Gesandten haben unterschiedliche Rangstufen. Nicht jedem Fürsten wird die Entsendung von Gesandten jeden Ranges zugestanden. Aber auch zwischen bei Diplomaten der gleichen Rangstufe lassen sich je nach "Würde" des betreffenden Fürsten feine Unterschiede in der Behandlung machen.
Einerseits erlaubt das Zeremoniell das Erfinden immer neuer subtiler Unterscheidungen, die bei vorhergehenden Anlässen noch nicht festgehalten wurden und für die daher keine gewohnheitsrechtliche Regelung existiert. Andererseits bleibt - falls man die erwünschte Behandlung nicht erhalten kann - nur der Abbruch offizieller Kontakte, um nicht einen Präzedenzfall zu schaffen.
Da nun zunehmend kategoriale völkerrechtliche Unterschiede im Zeremoniell ausgehandelt werden, entsteht ein hoher Handlungsdruck, keine zeremonielle Zurücksetzung zu akzeptieren. Für einen Kurfürsten kann ein zeremonielles Detail wie die Frage des sechsspännigen Einzugs seines Gesandten über seine Souveränität entscheiden. Für Herrschaftsträger mit unklarem Status steht im Zeremoniell die Rolle als anerkannte Teilnehmer an den internationalen Beziehungen grundsätzlich auf dem Spiel. Unwandlung von militärischer und ökonomischer Macht in zeremonielle Geltung ist unter diesen Umständen eine rationale Strategie. (Habitustheorie und Kapitalbegriff)
Im Zeremoniell wird gleichzeitig die soziale Rolle der Fürsten unter den europäischen Potentaten ausgehandelt. Sie wird nach wie vor als hierarchische Ordnung gedacht. Aber die etablierte Rollenverteilung besitzt keineswegs die Genauigkeit, die einen reibungslosen Kontakt aller mit allen im intensivierten diplomatischen Verkehr erlauben würde und ist zudem durch Machtverschiebungen immer wieder in Frage gestellt. Somit spielen Präzedenzstreitigkeiten auch unter den Gesandten der großen Monarchien eine wichtige Rolle.
Eine weitere Rolle des Zeremoniells ist die eines Gradmessers für den Zustand der Beziehungen zwischen den Mächten.
4.2.3.3. Funktionsverlust des Zeremoniells
Die zunehmende Ausdifferenzierung von völkerrechtlicher Qualität, Macht und sozialer Rolle der Fürsten sowie die deutliche Erkennbarkeit der souveränen Akteure führen ab Mitte des 18. Jh.s zum Bedeutungsverlust des diplomatischen Zeremoniells. Zudem geraten auch andere Formen des Zeremoniells, etwa zwischen Herrscher und Untertanen, zunehmend in die Kritik der Aufklärung. (Vec) Das diplomatische Zeremoniell wird auf seine Funktion als Beziehungsbarometer reduziert und als bloße Behinderung der "eigentlichen Geschäfte" kritisiert und zurückgedrängt. Schließlich setzen das Wiener Reglement und der Aachener Beschluß 1815/8 einen Schlußstrich unter die bisherige internationale zeremonielle Praxis, indem der Vorrang unter Diplomaten durch völkerrechtliche Verträge von der Würde der Souveräne gelöst wird. (Vec)