6.2 Zum Gegenstand: Politische Theorie

von Tim Neu
 

In diesem Abschnitt wird die ‘Politische Theorie’ als Gegenstand eingeführt. Dazu gehört neben der Formulierung ihrer Aufgaben und Gegenstände auch die Formulierung eines hinreichend abstrakten Begriffs des Politischen, der als Analysekategorie dienen kann (6.2.1). Zusätzlich wird auf zwei wesentliche Grundlagen in der Beschäftigung mit Politischer Theorie der FNZ gesondert hingewiesen: die Nicht-Identität des Politischem mit dem Staat einerseits (6.2.2) (Vgl. Schmitt, Begriff, 20ff.) und der Prozeß der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung des Politischen (6.2.3) (Vgl. Luhmann, Politik, 69ff.).

6.2.1 Was ist politische Theorie?

von Tim Neu
 

Mit der im Titel dieses Abschnitts formulierten Frage handelt man sich mindestens zwei Probleme ein:

Was ist das ‚Politische’?

Was ist ‚Politische Theorie’?

Wenn im Folgenden auf beide Fragen eine Antwort angeboten und damit ein eindeutiges Begriffsverständnis konturiert wird, so ist klar, daß es sich keineswegs um ein in der heutigen Forschung allgemein geteiltes oder gar verbindliches Konzept handeln kann. Ebenso wenig ist es in dieser Form etwa die Grundlage der hier behandelten frühneuzeitlichen politischen Denker gewesen. Statt dessen ist es das Ziel dieses Abschnittes, auf der Grundlage heutiger politik- und geschichtswissenschaftlicher Überlegungen einen Begriff von ‚Politischer Theorie’ vorzustellen, der zwar hinreichend allgemein ist, um die unterschiedlichen Ansätze in der Geschichte der Politischen Theorie (hier: der FNZ) darunter zusammenfassen zu können, gleichzeitig aber genügend inhaltliche Elemente enthält, um als weiterführende Analysekategorie dienen zu können.

Was ist das ‚Politische’?

Man kann sich dem ‚Politischen’ nähern, wenn man davon ausgeht, daß "es zum einen stets mit dem Ganzen und zum anderen mit Entscheidungen zu tun hat: Das Politische ist danach der Handlungsraum, in dem es um die Herstellung und Durchführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen geht" (Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte des Politischen, 14).

Von dieser Definition ausgehend kann man drei Aspekte des Politischen unterscheiden. Erstens gibt es einen strukturellen Aspekt ("Handlungsraum"), wobei man unter den Strukturen von Recht und Herrschaft dauerhafte, überindividuelle Regelsysteme verstehen kann. In diese sind konkrete Politische Ereignisse und Entwicklungen eingebettet, die den zweiten, handlungsbezogenen Aspekt ("Entscheidungen") des Politischen ausmachen. Drittens schließen die Entscheidungen immer einen inhaltlichen Aspekt ein, also die ‚Materien’ oder ‚Themen’, über die eine Entscheidung herbeigeführt wird (Vgl. Rohe, Politik, 61ff.) So handelt es sich beispielsweise bei dem Forschungsgegenstand ‚Westfälischer Frieden’ um eine Vielzahl miteinander verzahnter einzelner Handlungen (Verhandlungen, Feste, Gottesdienste usw.) in Bezug auf bestimmte Inhalte wie etwa Entschädigungen oder Friedensgarantien, die jedoch alle in die Struktur von gesamteuropäischer Diplomatie und Völkerrecht eingebunden sind.

Was ist Politische Theorie?

"Man nennt einen Inbegrif selbst von praktischen Regeln alsdann Theorie, wenn diese Regeln ... in einer gewissen Allgemeinheit gedacht werden, und dabei von einer Menge Bedingungen abstrahirt wird, die doch auf ihre Ausübung nothwendig Einfluß haben." (Kant, Gemeinspruch, 201). An diesem Zitat wird sehr schön deutlich, daß Theorie jeglicher Art immer auf Praxis bezogen ist, sie aufnimmt und reflektiert. Diese gedankliche Auseinandersetzung ist im wesentlichen, wie Kant zeigt, eine Abstraktionsleistung, was bedeutet, daß aus der Vielzahl der die Praxis bestimmenden Merkmale diejenigen ‚herausgezogen’ (lat. abstrahere = abziehen, wegziehen) werden, die von einer "gewissen Allgemeinheit", d. h. in den meisten praktischen Situationen wirksam sind.

Versteht man daher Politische Theorie in diesem Sinne als gedankliche Verarbeitung von politischer Praxis, so kann man im wesentlichen vier Fragetypen angeben, die eine solche Verarbeitung leiten (vgl. Hoerster, Einführung, 9ff.).

  1. Definitorisch: WAS ist das Politische?
  2. Methodisch: WIE kann man das Politische untersuchen?
  3. Deskriptiv: Wie IST das Politische beschaffen?
  4. Normativ: Wie SOLL das Politische beschaffen sein?

Faßt man diese Fragenrichtungen in einem Satz zusammen so könnte man ‚Politische Theorie’ verstehen als methodisch geleitete, deskriptiv-beschreibende und/oder normativ-wertende Untersuchung einer als politisch definierten Praxis, in der strukturelle, handlungsbezogene und inhaltliche Aspekte verschränkt sind.

Diese Bestimmung ist jedoch nicht so gemeint, daß es sich nur dann um Politische Theorie handele, wenn alle vier Fragen auch thematisiert würden, sondern es wird nur ein allgemeiner Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen die meisten politische Denker der FNZ nur Teilbereiche bearbeitet haben. So behandelte die politische Utopie (Utopisches Denken) fast ausschließlich die normative Frage und erst das Moderne Naturrecht brach in der Methodenfrage mit aus der Antike überkommenden Standards politischen Denkens.

6.2.2 Politische Theorie = Staatstheorie?

von Tim Neu
 

Sucht man nach einschlägigen Einführungen und Quellensammlungen zur Politischen Theorie, so wird man bald darauf stoßen, daß die Titel der Werke nicht nur auf das Wortfeld ‚Politik’ (z. B. Maier, Klassiker des politischen Denkens), sondern ebenso häufig auf das Wortfeld ‚Staat’ (z. B. Hoerster, Klassische Texte der Staatsphilosophie) Bezug nehmen, auch wenn es sich – wie bei den angeführten Beispielen – in beiden Fällen um Quellensammlungen handelt, die jeweils Texte derselben Autoren enthalten.

Da liegt die Vermutung nahe, daß sich das ‚Politische’, das wir als den Handlungsraum für kollektiv verbindliches Entscheiden bestimmt haben, hauptsächlich oder ganz im ‚Staat’ realisiert. Tatsächlich kann man Gründe für eine solche Position vorbringen. Zum einen legen die Umgangssprache mit ihrem fast synonymen Gebrauch der Adjektive ‚politisch’ und ‚staatlich’, sowie die tägliche Erfahrung mit dem modernen Wohlfahrts- und Sozialstaat, der kollektiv verbindliche Entscheidungen für fast alle Lebensbereiche fällt, eine solche Identifikation nahe. Aber auch die Wissenschaften, allen voran die Geschichtswissenschaft und die Philosophie, haben lange Zeit einer Identifikation des Staates mit dem Politischen das Wort geredet: "Politik war nach Ansicht der herrschenden Tradition deutscher Geschichtswissenschaft ... das Handeln von Regierungen und Staatsmännern" (Borowsky, Politische Geschichte, 476).

Nun gestaltet das Verhältnis von Staat und Politik jedoch komplizierter, als es die historiographische Tradition lange Zeit annahm, denn es bestehen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede, die im folgenden beleuchtet werden sollen. Dazu ist aber zunächst zurückzugehen auf die Definition des Staates: Mit den Worten Max Webers (Okzidentaler Rationalismus (Weber)) ist der "Staat ... ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen", bzw. "diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes - dies: das ‚Gebiet’, gehört zum Merkmal - das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht" (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 822;  Herrschaft). Damit ist die klassische Trias von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt angesprochen.

Der Staat als politische Institution

Durch diese Definition wird klar, daß es sich beim Staat natürlich um eine genuin politische Institution handelt, denn er fällt ja kollektiv verbindliche Entscheidungen für eine Gruppe von Menschen (Staatsvolk) innerhalb eines (Staats-)Gebiets, wobei diese ‚Herrschaft’ als legitim, also gerechtfertigt, angesehen und geglaubt wird (Legitimitätsglauben). Als Spezifikum kommt jedoch hinzu, daß die Durchsetzung der Entscheidungen durch das staatliche Monopol auf physische Gewalt garantiert wird.

Unterschiede zwischen Politik und Staat

Offensichtlich ist der Staat also politisch, aber folgt daraus, daß alles Politische auch staatlich verfaßt ist oder sein muß? Gegen eine solche Auffassung sprechen zum einen systematische und zum anderen historische Gründe.
Die systematischen Gründe resultieren aus der oben gegebenen Definition des Politischen als Handlungsraum für kollektiv verbindliches Entscheiden, denn damit wird Politik zu einem relativen Begriff und zwar relativ auf das Kollektiv, daß man untersucht. Nun findet man in der sozialen Realität eine Vielzahl unterschiedlichster Kollektive, darunter natürlich auch den Staat, aber eben auch: Vereine, Familien, Korporationen, Firmen, internationale Organisationen etc. Daher gibt es nicht das Politische an sich, sondern immer nur politische Handlungsräume konkreter Kollektive, also z. B. das Politische eines Vereins. Aus der Relativität des Politischen folgt dann weiter, daß dieselbe Handlung einmal als ‚politisch’ und ein anderes Mal als ‚unpolitisch’ erscheint, je nach dem gewählten Kollektiv. So ist die Wahl eines Vereinsvorsitzenden eine politische Aktion, wählt man den Verein als zu analysierendes Kollektiv, aus der Perspektive des Staates aber erscheint sie natürlich als unpolitische, in diesem Fall gesellschaftliche Handlung.

Aber auch aus historischen Gründen muß man die Identifikation von Staat und Politik ablehnen, denn "Europa hat den Staat erfunden. Der Staat ist keine ‚anthropologische Notwendigkeit’" und er gilt "inzwischen als weltgeschichtliche Ausnahme und nicht mehr als Regel" (Reinhard, Staatsgewalt, 15). Das Phänomen der spezifischen Verbindung von einheitlichem Staatsvolk und -gebiet unter einer einheitlichen Staatsgewalt, die nach innen das Gewaltmonopol besitzt und nach außen, also zu anderen Staaten unabhängig ist, stellt in der Geschichte tatsächlich eine Entwicklung dar, die sich erst sehr spät und nur im europäischen Kulturkreis durchsetzte und heute durch vielfältige zwischen- und überstaatliche Verflechtungen (Vereinte Nationen, Europäische Union) wieder relativiert worden ist. Und speziell in der FNZ hat man es in der Regel mit hierarchischen Geflechten von autonom Herrschaft und Gewalt ausübenden Obrigkeiten zu tun.

Warum der Staat dennoch zentral für die Politische Theorie ist

Nun nimmt der Staat dennoch zweifelsohne eine zentrale Stellung in der Politischen Theorie insgesamt und in der FNZ im speziellen ein, obwohl er - wie gezeigt - nicht den einzigen politischen Handlungsraum innerhalb der Gesamtgesellschaft konstituiert. Diese Zentralstellung rührt daher, daß das "Wachstum der Staatsgewalt" (Reinhard) als Fundamentalprozeß die gesamte FNZ grundlegend prägte (Staatsbildungsprozesse). In seiner oben definierten Reinform hat es den ‚Staat’ daher in der FNZ nicht gegeben, aber eine Vielzahl miteinander verschränkter Entwicklungen, die im Endeffekt auf die Konzentration und schließlich Monopolisierung von Macht-, Herrschafts- und Gewaltpotentialen über immer weiter territorial abgegrenzte Herrschaftseinheiten hinführten und somit die Bedingungen der Möglichkeit des modernen (National-)Staats schufen. Die zunehmende Verdichtung und gleichzeitige Ausweitung solcher ‚proto-staatlicher’ Gewalten stellte ein zentrales Problem der politisch-sozialen Praxis und damit auch der Politischen Theorie dar, weshalb sich Politische Theorie in der FNZ tatsächlich in vielen Fällen als Staatstheorie darstellt (Das Wachstum der Staatsgewalt und die europäische Expansion).

6.2.3 Ausdifferenzierung des Politischen in der Frühen Neuzeit

von Tim Neu
 

Im letzten Abschnitt wurde gezeigt, daß die Beziehung von Politischer Theorie und Staat generell und speziell in der FNZ merkwürdig ambivalent ist: Zieht man einerseits die oben entwickelte systematische Fassung des Begriffs des Politischen heran, so konstituiert der Staat keineswegs den einzigen politischen Handlungsraum und in der FNZ hat es den Staat im klassischen Sinne nicht einmal gegeben. Andererseits stellten die herrschafts- und gewaltbezogenen Intensivierungsprozesse in der FNZ eine so zentrale theoretische Herausforderung dar, daß die politische Theorie oftmals als Theorie vom Staat ansprechbar ist.

Neben der Nicht-Identität von Staat und Politik ist jedoch hier noch auf eine weitere Schwierigkeit bei der Beschäftigung mit der frühneuzeitlichen Politischen Theorie und damit auch indirekt der politischen Praxis hinzuweisen. In der heutigen, modernen Gesellschaft ist der Handlungsraum der Politik ‚autonom’, d.h. er funktioniert ausschließlich nach eigenen Regeln, und ‚selbstreferentiell’, bezieht sich also nur auf die in ihm selbst stattfindenden, eben ‚politischen’ Handlungen. Selbiges gilt für alle anderen gesellschaftlichen Handlungsräume, z. B. den wirtschaftlichen oder religiösen. Diese Form des Gesellschaftsaufbaus nennt man gemeinhin funktionale Differenzierung, denn für diese ist bezeichnend, "daß jede Funktion, die am Differenzierungsschema teilnimmt ... , in nur einem Teilsystem der Gesellschaft bedient wird." (Luhmann, Politik, 76f.). Zu diesen Funktionssystemen gehören neben der Politik u.a. Religion, Wirtschaft und Wissenschaft. Ein gutes Beispiel, an dem man sich klar machen kann, was mit funktionaler Differenzierung gemeint ist, ist das Phänomen der politischen ‚Korruption’. Diese liegt nach heutigem Empfinden vor bei Fällen, "in denen politische Entscheidungen wirtschaftlich (...) begründet werden. Korruption ist der Fall, wenn Systeme sich durch andere Bedingungen als die eigenen konditionieren lassen" (Baecker, Korruption, 14). Hier ist die Autonomie des politischen Handlungsfeldes gerade nicht gegeben und nicht umsonst ist daher Korruption bei Strafe verboten.

Nun ist es aber so, daß vollständig funktional differenzierte Gesellschaften sich erst in der Moderne durchgesetzt haben. Die frühneuzeitlichen Gemeinwesen kannten hingegen zumeist keine solchen ‚autonomen’ Handlungsräume, auch und gerade im Falle der Politik nicht. Natürlich gab es eindeutig als ‚politisch’ erkennbare und klassifizierte Handlungen und Strukturen, aber diese waren aufs engste verzahnt mit und beeinflußt von nicht-politischen Faktoren. Daher waren die Rahmenbedingungen vormoderner Politik geprägt von "Verhältnissen, in denen politische Macht sowohl hinsichtlich der Entscheidungsfindung wie auch ihrer Durchsetzung sich in erster Linie aus der (persönlichen) Verfügung über soziale oder ökonomische Machtmittel und der (individuellen) Fähigkeit zur Gewaltausübung begründet." (Schlögl, Vergesellschaftung, 22f.) .

Diese vormodernen Rahmenbedingungen von Politik in der FNZ, die sich massiv von denen heutiger Gesellschaften unterschieden, als auch sich verstärkende Prozesse der schrittweisen Entwicklung hin zu einer Autonomie des Politischen, die erhebliches Konfliktpotential innerhalb der alten Ordnung generierten, sind daher bei der Analyse der Politischen Theorie der FNZ zu beachten.