2. Funktionale Differenzierung, Systemtheorie

Talcott Parsons (1902-1979), bedeutender amerikanischer Soziologe, entwickelte Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, die zur Grundlage der modernen Systemtheorie wurde.
 
Niklas Luhmann (1927-1998), einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jhs., ist der Begründer der Systemtheorie, einer umfassenden Gesellschaftstheorie, die auf Begriffen aus der biologischen und neurophysiologischen Evolutionstheorie aufbaut.

2.1. Evolution

Die Entwicklung der Gesellschaft wird als evolutionärer Prozess (in Analogie zu biologischen Prozessen) begriffen: Durch eine funktionale Spezialisierung („Arbeitsteilung“) der einzelnen Teile wird das ganze System komplexer und leistungsfähiger. Wie ein biologisches System erzeugt sich auch ein soziales System fortlaufend selbst („Autopoiesis“). Der Prozess der Differenzierung ist ein evolutionärer Vorgang, der nicht von den Individuen geplant und gesteuert wird. Kleinste Einheiten sozialer Systeme sind nach Luhmann nicht Individuen, sondern Kommunikationsakte. Die gesamte Evolution wird vorangetrieben durch Variation (Auftreten neuer Möglichkeiten, z.B. durch Innovationen wie Schrift), Selektion (Auswahl bestimmter aus der grenzenlosen Zahl von Möglichkeiten, „Reduktion von Komplexität“) und Stabilisierung der erreichten Problemlösungen.

2.2. Gesellschaftliche Differenzierung

Es werden drei aufeinanderfolgende Typen von Gesellschaft angenommen:

  1. Segmentäre Differenzierung: Einfache, kleine, räumlich voneinander getrennte, gleiche Gesellschaften mit face-to-face-Kommunikation (Stämme, Dörfer etc.); alle Mitglieder haben im Wesentlichen die gleichen sozialen Rollen inne.
  2. Stratifikatorische Differenzierung (antike Hochkulturen, Mittelalter): Gesellschaft differenziert sich nach hierarchischen sozialen Schichten als Teilsystemen (Adel, Bürger, Bauern, Besitzlose o.ä.); ein Individuum gehört jeweils nur einem Teilsystem an. Im Laufe der Frühen Neuzeit findet in Europa ein historisch einzigartiger Wandel zu funktionaler Differenzierung statt.
  3. Funktionale Differenzierung: An die Stelle von hierarchischen Schichten als sozialen Teilsystemen treten in einem langen Transformationsprozess autonome Funktionssysteme (Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, Wissenschaft etc.), die sich verselbständigen und autonome Regeln und einen je eigenen „Code“ entwickeln, so dass sie nicht mehr auf andere Funktionssysteme zurückgreifen, sondern nur auf sich selbst („Selbstreferentialität“). Das Individuum gehört in verschiedenen sozialen Rollen verschiedenen Funktionssystemen an („Inklusion“ aller in alle Funktionssysteme). Das stellt neue Anforderungen an die Individuen, die sich zwischen den Teilsystemen hin- und herbewegen müssen (Zeitökonomie, Selbstkontrolle etc.).

In der Frühen Neuzeit z.B. differenzieren sich u.a. Politik und Religion zu autonomen gesellschaftlichen Systemen aus; die Politik bezieht die Legitimität ihrer Entscheidungen nicht mehr von der Religion, sondern produziert sie innerhalb und durch ihre Entscheidungsverfahren selbst.

2.3. Gesellschaftliche Semantik

Differenzierung geht einher mit einem Wandel der „gesellschaftlichen Semantik“, d.h. der Art und Weise, wie die Gesellschaft sich selbst beobachtet und beschreibt. Durch die funktionale Differenzierung kommt es zu einer Vervielfältigung der Perspektiven; eine einheitliche Repräsentation der Gesellschaft als ganzer (vormoderne „Ordo“-Vorstellung) wird unmöglich.