4. Disziplinierung

4.1. Gerhard Oestreich: „Sozialdisziplinierung“

In Anknüpfung an Max Weber hat der Historiker Gerhard Oestreich (1910-1978) 1969 den Begriff der Sozialdisziplinierung in die deutsche Geschichtswissenschaft eingeführt, um das Phänomen des Absolutismus besser zu erfassen, nämlich nicht mehr primär, wie bis dahin, als Phänomen auf der Ebene zentraler Regierungs- und Verwaltungsbehörden. Oestreich betont einerseits die Grenzen des Absolutismus, was die Ausschaltung der ständischen Zwischengewalten betrifft, sieht aber andererseits das Strukturmerkmal des Absolutismus darin, dass er erstmals disziplinierend bis auf alle einzelnen Individuen durchgriff und nicht nur ihr Verhalten, sondern auch ihre psychische Disposition veränderte. Legitimationsgrundlage dafür war die innerstaatliche Befriedung der konfessionellen und ständischen Konflikte. Das Modell für die Disziplinierung der gesamten Gesellschaft nach dem Prinzip hierarchischer Unterordnung sieht Oestreich im Militärwesen, von wo es auf Bürokratie und Wirtschaft (Merkantilismus) übertragen worden sei. Sozialdisziplinierung erscheint als „Fundamentalvorgang“, der nicht nur der Durchsetzung von Marktwirtschaft und absolutistischer Staatlichkeit gedient, sondern langfristig auch eine Voraussetzung für die moderne Demokratie geschaffen habe.

Rezeption und Kritik: Ungeachtet der geringen theoretischen Stringenz ist das Konzept Oestreichs auf sehr fruchtbaren Boden gefallen und hat die Frühneuzeit-Forschung stark beeinflusst. Der Vorgang der Sozialdisziplinierung ist bis ins Spät-Mittelalter zurückverfolgt (Städte) und in verschiedenen Bereichen rekonstruiert worden (Armenwesen, Policeygesetzgebung, Kirchenzucht; enge Berührung mit dem Konzept der Konfessionalisierung). Die neuere Forschung kritisiert, dass Sozialdisziplinierung allein als einseitiger Vorgang, d.h. als Normsetzung von oben nach unten dargestellt werde. Weder die Interessen, Spielräume und Mitwirkungschancen der Untertanen in diesem Prozess noch die Frage der konkreten Umsetzung würden thematisiert.

4.2. Michel Foucault: „Disziplinargesellschaft“

Michel Foucault (1926-1984), französischer Historiker und Philosoph und einer der einflußreichsten kulturwissenschaftlichen Theoretiker des ausgehenden 20. Jhs.

Im Gegensatz zu Oestreich fasst Foucault (in Anknüpfung an Nietzsche) Disziplinierung nicht als Einwirkung der Obrigkeit auf die Masse der Untertanen, also nicht als einseitige Repression von oben nach unten, sondern als Wirkung einer anonymen „Machttechnologie“, die zuerst an den Rändern der Gesellschaft ansetzt (Psychiatrie, Klinik, Gefängnis, Kaserne, Schule) und schließlich im Laufe des 18./19. Jh.s die gesamte Gesellschaft durchdringt.

Die Entfaltung der neuen Machttechniken geht Hand in Hand mit neuen Humanwissenschaften (Medizin, Psychiatrie, Pädagogik, Ökonomie), die theoretisch die Ordnung formulieren, die die Machttechnik praktisch erzeugt. Gegenstand der Macht ist nicht so sehr die Psyche als vielmehr der Körper der Individuen; die Ordnung der Gesellschaft wird den Körpern „eingeschrieben“ (etwa durch die „Inkorporierung“ einer exakten Zeitökonomie). Auf diese Weise werden die Individuen an die Funktionserfordernisse der entstehenden modernen „Apparate“ (Militär, Fabrik) angepasst und zu gesellschaftlicher Nützlichkeit und zu biologischer und ökonomischer Produktivität abgerichtet.

Am Beispiel des Strafens wird besonders deutlich, wodurch sich die moderne von der alten „feudalen“ Ordnung unterscheidet: An Stelle des einzelnen, exemplarischen, spektakulär grausamen Strafrituals tritt die alltägliche, lückenlose, stetige, disziplinierende, ökonomisch nützliche Strafe des Zucht- und Arbeitshauses. Das ideale Gefängnis, das „Panopticum“ des liberalen Aufklärers Jeremy Bentham, ist für Foucault Inbegriff und Modell der modernen „Disziplinargesellschaft“. 

  • J. Bentham, Plan für das Panopticum
  • N. Harou-Romain, Plan für eine Strafanstalt, 1840
  • J.F. de Neufforge, Plan für einen Gefängnisneubau
  • Inneres der Strafanstalt von Stateville (USA), 20. Jh.

Die Pointe besteht darin, dass das, was gemeinhin als Humanisierung erscheint, zugleich die perfekte Disziplinierung darstellt; m. a. W. Freiheit des Individuums setzt allgegenwärtigen anonymen Zwang und „verkörperlichte“ Disziplin voraus.