3. Prozess der Zivilisation

3.1. Zivilisationstheorie

Norbert Elias (1897-1990), Soziologe und Kulturphilosoph, mußte 1933 nach England emigrieren. Sein grundlegendes Werk "Über den Prozeß der Zivilisation", schon in den 1930er Jahren geschrieben und zuerst 1939 publiziert, wurde zunächst kaum beachtet und entfaltete erst nach der Neuauflage 1969 seine bahnbrechende Wirkung auf die Kultur- und Geisteswissenschaften.

Elias versteht Gesellschaften als „Figurationen interdependenter Menschen“ und fragt danach, wie solche Figurationen die psychische Disposition der Einzelnen prägen, die ihrerseits wiederum die Figurationen verändern (Metapher des Tanzes); „Soziogenese“ und „Psychogenese“ bedingen sich wechselseitig.

Die Prozesse der marktwirtschaftlichen Verflechtung und der Zentralisierung der Staatsgewalt führen zur „Verlängerung der Handlungsketten“ und zur Verdichtung des sozialen „Interdependenzgeflechts“, d.h. die Folgen des individuellen Handelns werden zeitlich und räumlich weitreichender und erfordern daher komplexe Verhaltensabstimmung, langfristige Kalkulation, Beherrschung spontaner Affekte und Unterordnung momentaner Neigungen unter langfristige Ziele. Selbstkontrolle des Individuums tritt an die Stelle von außen wirkender Zwänge. Die innere Scham- und Peinlichkeitsschwelle wird erhöht (Tabuisierung körperlicher Bedürfnisse, verfeinerte Tisch-, Schlaf- und Badesitten etc.). Diese „Zivilisierung“ vollzieht sich zuerst in den Oberschichten, deren Mitglieder sich selbst beherrschen müssen, um andere beherrschen zu können. Die Diffusion der neuen Verhaltensstandards nach unten entwertet sie als soziales Unterscheidungsmerkmal und nötigt die Elite zu weiterer Verfeinerung.

3.2. Das Beispiel der höfischen Gesellschaft

Elias beschreibt dies exemplarisch für den französischen Hof Ludwigs XIV., dessen aus moderner wirtschaftsbürgerlicher Sicht irrationale Verhaltensstandards (Unterwerfung unter ein subtiles Zeremoniell, Verschwendung etc.) er als spezifisch „höfische Rationalität“ erklärt. Der König vermag den Adel als Machtkonkurrenz auszuschalten und zu „domestizieren“, indem er die ökonomischen und Prestige-Chancen am Hof monopolisiert. Der Adel, der seine herausgehobene soziale Existenz, seine „Ehre“, bewahren will, kann dies nur mehr bei Hof. Die Höflinge sind – ebenso wie der König selbst – zur stetigen perfekten Affektkontrolle (die als solche nicht erscheinen darf, sondern „natürlich“ wirken muss) genötigt, um ihre Zwecke zu erreichen.